Sonntag, 31. Oktober 2010

Wikipedia-Enzyklopädie

Ein eigentlich sehr lohnenswertes Projekt, das mehr Aufmerksamkeit verdient: die interne Wikipedia-Enzyklopädie. Zu wichtigen Themen wie dem Babel-Krieg oder der Restaurationsbrot-Debatte fehlen allerdings noch Artikel. Wer traut sich?

PS: Auf welch verschlungenen Wegen auch immer hat Torsten Kleinz vom Blog computernotizen.de von meinem Beitrag Die offene Wikipedia und ihre Feinde Wind bekommen und eine Replik verfasst: Das Konsens-Prinzip als Wikipedia-Gift. Er moniert, dass zwar die Probleme analysiert werden, Lösungsangebote aber weitgehend fehlen. Damit hat er nicht ganz Unrecht, von daher verstehe ich das mal als Aufforderung, mir nach der Vergangenheit auch die Zukunft der Wikipedia vorzunehmen. Bis ich dafür Zeit finde, werden aber wohl noch einige Wochen ins Land gehen. Vielen Dank jedenfalls an Southpark, dass ich im Oktober Gastblogger sein durfte – vielleicht klappt es ja irgendwann in nicht allzu ferner Zukunft noch einmal.

Wider die esoteristische Vereinnahmung des Kopfkraulers!

Kopfkrauler schraegoben
Der Kopfkrauler hat ein Problem. Wie soll man ein Gerät ernst nehmen, dass nicht genau weiß wie es heißt (zur Auswahl stehen auch Kopfmassagegerät, Kopfquirl, Engelsfinger, Orgasmatron, Bokoma) oder Stimulaxer. Wie etwas wahrnehmen, was sich mit Vorliebe in der Umgebung von Heilsteinen, Engelsaura, Gauß-Zahlen und ähnlichem bewegt. Wie nicht an Snake-Oil denken, wenn die Claims von allgemeiner Entspannung über energetische Aufladung, linksdrehendes Wohlbefinden und Weltfrieden reicht, Der Kopfkrauler hat die falschen Freunde.

Und das ist schreiendes Unrecht! Auch wenn es eigentümlich aussieht. Ganz ohne Gaußzahlen und Energetik handelt es sich beim Kopfkrauler einfach um ein grandioses Gerät. Intensiv! Schockierend!

Aber um erstmal zu erläutern, worum es geht: der Kopfkrauler sieht ein bißchen aus wie ein Quirl. An einem Griff befinden sich Metallspeichen (meist 12) die eine vage halbkreisförmige Form haben. Am Ende dieser Speichen ist ein Knubbel. Den Kopfkrauler setzt man nun von schräg hinten auf den Kopf, und, nun ja, man krault sich.

Kopfkrauler topsicht

Obwohl ich ja eigentlich ein Anhänger komischer Geräte bin, brauchte es doch ein Werbegeschenk um den Kopfkrauler in diesen Haushalt einzuführen. In nur wenigen Stunden konnte er sich den Platz neben dem Eingang sichern, wo man zum Abschied noch kurz kopfkraulen kann, bevor man sich in die weite Welt hinausbegibt. Wenn man allein ist, allein, das ist intensiv, wenn man zu zweit ist, auch von schräg hinten. Das ist intensiver.

Aber wie beschreibt man das Gefühl? Gänsehaut ja, aber das ist nur ein Teilaspekt. Es hat ein bißchen was davon, als hätte ich mit Mitte 30 entdeckt, wie ich mich selber kitzeln kann. Eine spontane, intensive, den halben Körper überziehende Reaktion, die kribbelt. Klingt komisch? Ist es auch. Ausnehmend. Noch komischer: bei meiner intensiven Kopfkraulrechereche habe ich ihn mit USB-Anschluß gefunden. Das macht mir Angst.
Kopfkrauler bodensicht

Samstag, 30. Oktober 2010

Darummagichberlin (XIV)

Der Berliner Verkehrsteilnehmer gibt nie auf, und kämpft für seine Rechte. Beides am selben Tag sogar.

Freitag, 29. Oktober 2010

Frei wie Arial. Schriften ohne Urheberrecht.

Eine Welt ohne Urheberrecht ist möglich. Beispielsweise wenn man Koch ist, oder Witzeerzähler, oder Magier, oder Schriftendesigner. Mit den aufkommenden Diskussionen um die Grundsätze des Urheberrechts wendet sich die Wissenschaft dankenswerterweise auch den bisher eher unbeachtet gebliebenen Randbereichen zu. Nachdem ich hier letztens schon die Studie zu Stand-Up-Comedians erwähnte, gibt es auch eine zu Schriftendesign:

Blake Fry: WHY TYPEFACES PROLIFERATE WITHOUT COPYRIGHT PROTECTION. In: J. ON TELECOMM. & HIGH TECH. L. [Vol. 8]

Zumindest in den USA, wo Herr Fry forscht, sind diese Schriften urheberrechtsfrei. Trotzdem, oder laut Fry eher deswegen, besteht eine lebendige Szene, die in den letzten Jahrzehnten stark angewachsen ist. Das Angebot an Schriften ist nie so groß gewesen wie heute, und auch im Vergleich zu Europa - wo ein Schutz existiert - geht es ihr sehr gut.

Fry skizziert wirklich ausführlich und interessant die Entwicklung der Schriftentwicklung, die Zeit ihres Bestehens immer an ein anderes Medium gebunden war. Bis ins späte 19. Jahrhundert hinein war der mechanische Aufwand der Typenproduktion so groß, dass der eigentliche Design-Prozess kaum ins Gewicht fiel. Als im späten 19. Jahrhundert die ersten maschinisierten Reproduktionsmöglichkeiten entstanden waren die Schriften ein Zusatz der von den großen Druckmaschinenherstellern nebenbei angeboten wurde. Heute wichtigster Auftraggeber für Schriften ist Adobe, die mit diesem Geschäftsfeld kaum Gewinn machen, aber die benutzen um die bekannten Softwareprogramme zu verkaufen.

Er beschreibt die Probleme, die es macht, Original und Fälschung zu bestimmen, wenn mindestens an Textschrift enge funktionale Anforderungen existieren, die real benutzten Textschriften zudem alle auf Vorbilder zurückgehen, die größtenteils mehrere hundert Jahre alt sind. Ein rechtlicher Schutz würde sich kompliziert gestalten, selbst wenn er erwünscht wäre. Fry beschreibt aber auch, warum die Schriftendesigner trotzdem aktuell prosperieren.

Zum einen sieht er soziale Normen als wichtige Regelungskonstante in dem Bereich. Der reale professionelle Markt ist klein und übersichtlich, ein bekannter Plagiator würde schnell alle Möglichkeiten der Zusammenarbeit verlieren. Dabei existieren vor allem zwei Normen: keine vollständige 1-1 Kopie, und wo andere Ideen einfließen müssen diese benannt werden. Auf Kundenseite - vor allem bei Graphikdesignern - existieren ähnliche Normen, jedoch sind diese deutlich schwerer durchzusetzen.

Die technische Entwicklung macht zudem neue Schriften notwendig. Je nach Anwendungszweck sind leicht verschiedene Ausführungen einer Schriftidee notwendig, die technische Entwicklung hat die Zahl möglicher Anwendungen exponentiell größer werden lassen, so dass auch der Bedarf an Schriften steigt. Zudem ermöglicht die Technik auch Leuten das Schriftdesign, die noch vor einigen Jahren an hohen finanziellen und technischen Einstiegshürden gescheitert wären. Während die Zahl, und vermutlich auch der Anteil, schlechter Schriften gestiegen ist, ist auch die Zahl guter professioneller Schriften in die Höhe geschossen.

Zudem unterliegt Schrift, ähnlich wie Mode, Geschmackszyklen, die eine ständige Reproduktion und Neuerfindung notwendig macht. Einst beliebte Werbeschriften fallen aus der Mode, neue Schriften sollen neuen Zeitgeist transportieren, Werbetreibende versuchen über eine originelle Schrift aus der Menge herauszufallen.

Sollte Schrift also verrechtlicht werden, sieht Fry wenig Gewinn. Die Gefahr besteht, dass starre rechtliche Regeln die zu aller Zufriedenheit arbeitenden sozialen Normen zerstören, und vieles was an Kreativität und Innovationskraft in der Szene besteht, aushöhlen. Der Europa/USA-Vergleich zeigt, dass der schwächere Schutz keineswegs für eine geringere Produktivität sorgt, im Gegenteil steigert er Flexibilität und Anpassungsfähigkeit. Wobei auch Fry einräumen muss, dass im Gegensatz zu vielen Kunstmärkten die Gewinnchancen gering sind. Ähnliche wie diese Winner-takes-it-all-Märkte betreibt der größte Teil der Beteiligten das Geschäft mit minimalem Gewinn. Während allerdings erfolgreiche Komiker oder Musiker Reichtümer anhäufen können, reicht es selbst bei Schriftgestalter-Stars nur zu einem sicheren Auskommen.

Und da wiederum liegen die kleineren Schwächen an Frys Text. Der Europa/USA-Vergleich wird eher postuliert als bewiesen, auch wenn er generell so wirkt als könnte er mit einem educated guess die Lage einschätzen. Seine Erfolgsbilanz des schwächeren Schutzes bezieht sich nur auf die Vielfältigkeit der Schriftgestaltung, nicht auf die ökonomische Situation der Gestalter, die er normativ außen vor lässt. Die Frage, ob beispielsweise ein stärkerer Schutz auch die Verhandlungsposition der Gestalter gegenüber Adobe oder Apple stärken könnte, stellt er gar nicht erst.

Dennoch insgesamt ein inspirierender Text, der ein weitgehend im Schatten liegendes Feld der Geistigen-Eigentums-Debatte beleuchtet, und mir bisher unbekannte Aspekte ausführt, bzw. andere Studien bestätigt.

Und am Rande: ich habe selten einen Text eines Juristen gelesen, der derart von einem Enthusiasmus für sein nichtjuristisches Empirisches Thema durchdrungen war. Ich habe mindestens ebensoviel über die Anforderungen an Schriftgestaltung im Metallsatz, komische Onlinediskussionen, die Erwerbssituation begeisterter Hobbyisten und ähnliches erfahren wie über die Ökonomie des Urheberrechts.


Kürzestupdate zur außerordentlichen Wikimedia-Mitgliederversammlung

Mal ein kurzes Update zur gGmbh-Gründung von Wikimedia Deutschland und den anschließenden Verwerfungen. Die gGmbh existiert mittlerweile, worauf die Diskussion um Sinn oder Zweck und vor allem Ausgestaltung ziemlich eingeschlafen ist.

Wikimedia Deutschland und Misstrauensvotumsantragssteller haben sich auf ein Verfahren geeinigt, über das Antragsteller mit allen Mitglieder kommunizieren können. Jetzt ist das Anschreiben an alle erreichbaren Wikimedia-Mitglieder tatsächlich rausgegangen. Jetzt kommt die spannende Frage, ob sich die benötigten 62 Mitglieder überzeugen lassen eine außerordentliche Mitgliederversammlung einzuberufen.


Mittwoch, 27. Oktober 2010

Die offene Wikipedia und ihre Feinde

Wikipedia, das wissen nicht nur Southpark und sein mutmaßliches Alter ego Eric Goldman, hat ein Problem: Den Verlust der Offenheit, die Wikipedia groß gemacht hat. Das gilt nicht nur für die Offenheit der eigentlichen Enzyklopädie, d. i. der Artikel, die nach und nach durch technische, teilweise notwendige Finessen wie Sperren oder Sichtungen eingeschränkt wurde, sondern auch und vor allem für die Sozialstruktur. Die Wikipedianer begrüßen Neulinge meist mit Löschanträgen und Textbausteinen, die Außenwelt wird, sobald sie sich – ob in Form von wissenschaftlichen Konferenzen, von Blogbeiträgen oder gar von neuangemeldeten Benutzern, die in der Wikipedia ihre Meinung kundtun – zunächst misstrauisch beäugt und schließlich verhöhnt, angegriffen, rausgeworfen. Für die bereits anerkannten Wikipedianer gilt Walter Kempowskis Wort über die bundesrepublikanische Gesellschaft: „Ein Schritt vom Wege, und Sie sind erledigt.“ In den Worten des großen Iberty-Schreibrechterteilers: „Wikipedia ist ein paranoider arroganter Haufen geworden, der nicht mehr auf Leute zugeht sondern Angst vor jeder Veränderung hat und mit Liebe im eigenen Saft schmort. Scheint wohl jeder Community irgendwann zu passieren, ist insofern nicht überraschend aber dennoch bedauerlich. Ich kann niemand verdenken sich das in der Freizeit nicht freiwillig anzutun. [...] ich vergass: unglaublich intolerant.“

Woher kommt diese Xenophobie und Intoleranz? Ich versuche es mal mit einer „ideengeschichtlichen“ Antwort, geleitet von einer provokanten These: Einer der ärgsten Feinde der offenen Wikipedia ist das Konsens-Prinzip. (Bei der unten skizzierten Entwicklung spielen natürlich auch andere Faktoren eine wichtige Rolle, ich konzentriere mich aber hier auf die Rolle des Konsensprinzips. Wer das zu weit hergeholt oder zu einseitig findet, darf gerne seine eigene Ideengeschichte schreiben :-).)

Wikipedia definiert „Konsens“ wie folgt:

Der Konsens (Betonung auf der zweiten Silbe; lat. consentire = übereinstimmen) bedeutet die Übereinstimmung von Menschen − meist innerhalb einer Gruppe − hinsichtlich einer gewissen Thematik ohne verdeckten oder offenen Widerspruch.

Ohne verdeckten oder offenen Widerspruch. Interessant wäre sicherlich, auf welchem Wege dieses Prinzip Eingang in die (deutsche) Wikipedia fand, dafür müsste ich aber vermutlich wochenlang Wikiarchäologie betreiben, und am Ende sagt mir Elian, das war alles ganz anders. Von daher gehe ich gleich zu der Frage über, was das Konsensprinzip mit der Wikipedia angestellt hat. Fakt ist: Konsens im eigentlichen Sinne funktioniert nur in kleinen Gruppen. Solange die Wikipedia noch aus 20 Leuten bestand, die sich mehr oder weniger einig waren und sich darüber hinaus nur schwer in die Quere kommen konnten, weil die weiten Felder des menschlichen Wissens weitgehend unbeackert waren, konnte man für alle akzeptable Entscheidungen treffen. Nun hatte man Wikipedia aber als ein offenes System konzipiert, an dem wikiprinzipiell jeder teilnehmen durfte (sic Präteritum). Die Zahl der Mitarbeiter stieg rasch an, und damit geriet der bisher erreichte Konsens unter den Benutzern zunehmend in Gefahr – denn mit der Zahl der Mitarbeiter stieg auch deren Heterogenität im Denken und Handeln.

Nicht genug: Die Wikipedia wurde durch Usenet-Propaganda und schließlich durch Medienberichte (etwa einen großen Spiegel-Artikel Anfang 2004) immer bekannter, womit auch die tatsächlichen Attacken von außen zunahmen. Vandalismus wurde ein größeres Problem, war aber naturgemäß nie ein wirklicher Streitpunkt – „Ficken ficken ficken soll stehenbleiben, ist doch ein konstruktiver Beitrag“ war und ist keine vertretbare Position. Schwerwiegender wurde das automatisch auftauchende Problem der enzyklopädischen Relevanz. Schon die Frage, ob in einer Internetenzyklopädie, die nicht mehr durch Papierknappheit künstlich begrenzt ist, überhaupt eine Auswahl nach Wichtigkeit getroffen werden muss, wird seither kontrovers diskutiert. Immerhin konnte man sich – aus diversen schwerwiegenden Gründen, etwa dem Persönlichkeitsrecht, aber wohl vor allem dem menschlichen Reflex folgend, Wichtiges von Unwichtigem zu entscheiden – darauf einigen, dass es eine Scheidelinie der „Relevanz“ geben müsse. Wo diese aber liegen soll, ist bis heute Gegenstand der Diskussion (interessant in diesem Zusammenhang vor allem die Entwicklung der Seite Wikipedia:Relevanzkriterien, die im April 2004 angelegt wurde und auf der schon bald eine rege Diskussion einsetzte).

In den ersten Diskussionen bildete sich so ein „Konsens“ heraus – allerdings nicht im eigentlichen Sinne einer Meinung, die von allen übereinstimmend geteilt wird, sondern im Sinne eines Standpunkts, der von der Mehrzahl der etablierten Mitarbeiter aus bestimmten Gründen unterstützt wird. Spätestens hier beginnt eine eigenständige wikipedianische Begriffsgeschichte des Wortes. Praktisch exerziert wurde das anhand der Frage, ob Artikel über einzelne Straßen in die Wikipedia aufgenommen werden sollen. Ulrich Fuchs entwickelte eine recht komplexe frühwikipedianische Enzyklopädietheorie, die Artikel über Straßen und andere „Dinge“ (his words) mehr oder weniger radikal ausschloss. Achim Raschka demontierte Fuchsens Theorie, indem er kurzerhand einen exzellenten Artikel über eine Straße verfasste (die Warschauer Straße in Berlin) – mit dem Ergebnis, dass sich Ulrich Fuchs schließlich aus der Wikipedia zurückzog und ein eigenes Projekt gründete.

Hieraus hätte man die Lehre ziehen können, dass ein „Konsens“ im eigentlichen Sinne in einem großen, heterogenen Projekt nicht möglich ist, weil es immer jemanden gibt, der die dominierende Meinung nicht teilt und sich auch von einer überwältigenden Mehrheit nicht überzeugen lässt. Man hätte sagen können: okay, wir haben eine klare Mehrheit von Leuten mit guten Argumenten, die wollen, dass Straßen eigene Artikel bekommen. Man ließ aber den Begriff „Mehrheit“ lieber weg und fügte stattdessen das Wort „Konsens“ ein. Ein Konsens hatte in dieser Frage aber nicht bestanden, eine „Übereinstimmung von Menschen − meist innerhalb einer Gruppe − hinsichtlich einer gewissen Thematik ohne verdeckten oder offenen Widerspruch“ war nicht zustande gekommen. Die implizite Aussage dahinter: Wer widerspricht, ist nicht Teil der Gruppe.

Auf dieser Basis konnte das gedeihen, was ungefähr seit 2005 die Wikipedia beherrschte: Ein inner circle, der sich meist selbst als Kreis von „verdienten Benutzern“ bezeichnete. Der inner circle hatte in jahrelanger Zusammenarbeit und nicht zuletzt mittels unmittelbarer Kommunikation über den Wikipedia-Chat und auf Stammtischen eine relativ hohe Homogenität und mithin einen Konsens innerhalb der eigenen Gruppe erreicht. Es galt nun, diesen gegen die anstürmende Außenwelt, vor allem gegen die neuen Benutzer, zu verteidigen. Als ich im Sommer 2005 zur Wikipedia kam, war dieser Abwehrkampf in vollem Gange. Beispiel: Der neue Benutzer WikiCare eröffnete eine Seite mit dem Titel Wikipedia:Qualitätssicherung (QS) als Antwort auf die Tatsache, dass Verbesserungswünsche für Artikel immer häufiger auf den sogenannten Löschkandidaten ausgesprochen wurden. Hier sollten fortan Artikel ohne Druck und unter freundlicheren Voraussetzungen verbessert werden. Gute Idee, dachten sich die ebenfalls recht neuen Benutzer Kenwilliams, Thomas S., Tolanor und Wiggum und machten sich – im Gegensatz übrigens zu WikiCare, der nie einen einzigen Artikel verbessert hat – an die Arbeit. Halt, rief da der inner circle in Gestalt der Promis Southpark, Finanzer, Elian, Artikel kann man auch ohne Bausteine überarbeiten, auch ohne Listen, auch ohne Menschen, die diese Listen abarbeiten und schließlich archivieren müssen, und in den gravierenden Fällen kann ein bisschen Druck in Form eines Löschantrags auch nicht schaden. Dass sie damit recht hatten, beweist nicht zuletzt die Tatsache, dass unsere Eingangskontrolleure heute nahezu vollständig verlernt haben, Artikel selbstständig erstzuversorgen, etwa durch Wikifizierungen oder eine zumindest oberflächliche Google-Recherche, und stattdessen lieber gleich einen Baustein setzen, ob das nun ein Schnelllösch-, Lösch- oder QS-Antrag ist.

Wichtiger aber ist die Form, in der die QS bekämpft wurde: Nämlich mit dem Hinweis auf einen bestehenden „Konsens“ unter den „verdienten Benutzern“, den man als Neuling nicht einfach so umwerfen könne. Dass „Konsens“ weitgehend gleichbedeutend mit „Meinung des inner circle“ war, konnte einem neuen Benutzer zunächst nicht klar werden. Noch gravierender war die Tatsache, dass sich der inner circle, indem er dieses ominöse Wort für sich reklamierte, nicht als eine Gruppe unter vielen verstand, sondern als rechtmäßige Vertreterin der reinen Wikipedia-Lehre. Alles, worauf ein Neuling glaubte hoffen zu können – dass er an dem, was allgemein „Konsens“ genannt wurde, mitbasteln dürfe, oder dass er vielleicht eine Mehrheit von Benutzern hinter sich versammeln könne oder schon versammelt habe, war in Wahrheit nichtig angesichts der Tatsache, dass er durch die pure Reklamation des Konsens durch den inneren Kreis bereits aus der „eigentlichen“ Wikipedia ausgeschlossen war – was er spätestens merken konnte, wenn er bei einer Adminkandidatur obskure Gegenstimmen wie „Bauchgefühl“, „seltsame Ansichten“ oder „hat zuviele Babels auf der Benutzerseite“ kassierte. Jeder, der auf den Löschkandidaten für „verbessern statt löschen“ votierte oder einfach nur „behalten!“ schrieb, ohne seine Ansicht zu begründen, der bunte Babel-Bausteine auf seiner Benutzerseite sammelte oder Themenstubs einführen wollte, wich von den ungeschriebenen Gesetzen des sogenannten Konsens ab – eine Abweichung, die sofort registriert wurde und ihn zunächst einmal, ohne dass er es merkte, aus der Gemeinschaft der anerkannten, „verdienten“ Wikipedianer ausschloss.

Nun tat aber nicht jeder solchermaßen Ausgeschlossene der Wikipedia den Gefallen, sich einfach zu verkrümeln und einen Fork aufzumachen, um damit den vermeintlichen Konsens zu einem tatsächlichen zu machen. Im Gegenteil blieben die meisten Benutzer und formten ihre eigenen informellen Gruppen oder integrierten sich in das bestehende System. Die Zahl der Benutzer, die den „Konsens“ nicht teilten, stieg sogar bedrohlich an. Hier ist der Ursprung einer besonders beliebten Spielart des „Konsens“ zu suchen: Der Verdammung demokratischer Vorgänge innerhalb der Wikipedia. Die Seite Nimm nicht an Abstimmungen teil fand viel Beifall; die dümmliche Behauptung „Wikipedia ist keine Demokratie, sondern eine Enzyklopädie“, 2006/2007 fast allgegegenwärtig (prominent vertreten etwa in Markus Muellers Mantras: „Hier gibt es keine Demokratie.“), konnte nur in dieser Atmosphäre einer unterschwellig wahrgenommenen Bedrohung der eigenen Hegemonialstellung ihre erstaunliche Karriere antreten. Natürlich kann über Wahrheit und Wissen nicht abgestimmt werden. Dies war aber auch nie Gegenstand der Debatte. Wikipedia ist nicht nur eine Enzyklopädie, sondern auch ein soziales Projekt, dessen Regeln im sozialen Mit- und Gegeneinander festgelegt werden. Dabei können auch demokratische Vorgehensweisen eine Rolle spielen: Wikipedia kann gleichzeitig Enzyklopädie und Demokratie sein – ebenso wie Deutschland gleichzeitig ein Staat und eine Demokratie sein kann.

Der „Konsens“, der einen Komplex von übereinstimmenden Meinungen einer bestimmten Gruppe bezeichnete, der „Core-Community“, war also keineswegs immer von vernünftigen Überlegungen, sondern oft auch schlicht von den Interessen dieser Gruppe geleitet: Das Eherne Gesetz der Oligarchie schlug zu. Das Wikipedia-spezifische Konsensprinzip entfaltete dabei eine ganz besondere Dynamik: Weil der „Konsens“ zunehmend als übergeordnete, nicht mehr diskutable Grundwahrheit begriffen wurde, war seine Umsetzung auch den bisher gültigen Regeln nicht mehr unterworfen. Man [d. h. auch ich] fing beispielsweise an, Löschungen von Babelsammlungen bewusst ohne entsprechende Diskussion, sogar ohne Schnelllöschantrag vorzunehmen, weil der angebliche Konsens eben vorsah, dass solche Sammlungen schädlich für eine „ernsthafte Enzyklopädie“ seien. Die Core-Community verstand sich als Streiter für den Konsens, der Neulingen auch gar nicht mehr auseinandergesetzt und erklärt, geschweige denn diskutiert und infrage gestellt zu werden brauchte. Weil diese Neulinge, denen man nichts erklärte, die man stattdessen vor vollendete Tatsachen stellte, nicht so einfach spurten, entwickelte sich ein Korpsgeist in der inneren Community. An diesem Punkt brauchte jemand, der zwar bewusst und ganz offensichtlich gegen Wikipedia-Regeln und -Gepflogenheiten verstoßen hatte – etwa indem er einen angeblich schlechten, aber vielleicht schon seit Jahren so dastehenden Artikel ohne Diskussion löschte – keine Sanktionen mehr zu fürchten. Das Konsens-Korps kam ihm sogleich zuhilfe, indem es einfach behauptete, der jeweilige Kritiker der Aktion habe keine Ahnung – nämlich von was? Vom Konsens.

Trotz oder gerade wegen des sich formierenden Gleichschritts der Korpsmitglieder löst sich die Cor(e)ps Community seit etwa 2007 zunehmend auf. Das hat vor allem zwei Gründe: 1) Trotz der Repressionen konnten sich alternative Denkmodelle zum „offiziellen“, angeblichen Konsens allein wegen der schieren Hartnäckigkeit ihrer Verfechter halten oder sogar durchsetzen: Babels gibt es immer noch, die Qualitätssicherung leider ebenfalls. Radikale Konsenskrieger wie Markus Mueller verabschiedeten sich deshalb frustiert aus der Wikipedia. 2) Auf der anderen Seite des wikipolitischen Spektrums fühlten sich einige der wichtigsten Protagonisten des inner circle desto unwohler, je mehr sich der inner circle radikalisierte. Dass Benutzer ausgegrenzt und gemobbt wurden, wurde eine schwer zu übersehende Tatsache, mit dem Resultat, dass sich eine Reihe von Benutzern – teilweise mit öffentlichen Erklärungen wie Elians „Warum ich nicht mehr mitspiele“ – aus dem bisherigen Bereich der Konsensoligarchie oder sogar aus der Wikipedia verabschiedeten.

Heute besteht die Community aus kleineren Gruppen, die über gemeinsame Interessen oder (meistens) gemeinsame Ansichten zueinander gefunden haben und sich etwa über interne Chatkanäle austauschen. Einen Korpsgeist gibt es innerhalb dieser Gruppen immer noch, dessen Durchsetzung ist aber im Sinne einer „wikipolitischen“ Gesamtausrichtung der Wikipedia erheblich schwerer geworden. Der Begriff Konsens aber hat trotz dieser Veränderungen überlebt – mithilfe einer weiteren Bedeutungsverschiebung. In Ermangelung einer festgefügten Gruppe, die den Konsens festlegen könnte, ist er zu einer Art Rousseauschem volonté générale geworden: Ein vor Urzeiten von Gott, Jimbo oder Kurt Jansson in den Boden gerammter Kultstein, um den nun alle tanzen müssen. Wer aus der Reihe tanzt, wird auch heute noch mit dem impliziten oder expliziten Ausschluss aus der Gemeinschaft der „verdienten Wikipedianer“ bestraft. Leider ist die kultische Deutung des Steins heute nichtmal mehr für den Eingeweihten leicht, sodass es umso unsinniger ist, sich auf ihn zu berufen.

Das Konsensprinzip ist eine zutiefst autoritäre Ideologie. Es schafft einen großen Graben zwischen denen, die dem vermeintlichen „Konsens“ folgen und folglich als „verdiente Autoren“ zu gelten haben und denen, die der Meinung der Corps Community nicht folgen wollen und folglich „Trolle und Deppen“ oder „Störer“ sein müssen. Die Rede von „Trollen“, „Störern“, „Projektschädlingen“ zeigt, wie tief das Konsensprinzip – die Unfähigkeit, abweichende Meinungen zu ertragen, weil nicht sein kann, was nicht sein darf – Einzug ins Denken der Wikipedianer gehalten hat. Der antidemokratische Ruf nach „Reinheit“ und „Sauberkeit“, das Verlangen, dass „endlich mal aufgeräumt“ werden müsse, begegnet in vielen Diskussionsbeiträgen. Die Geburt des wikipedianischen Autoritarismus aus dem Geiste des Konsensprinzips wäre zu verhindern gewesen, wenn man sich von Anfang an auf einen demokratischen Meinungspluralismus verständigt hätte. Eine Abweichung von dem, was ein kleiner Kreis von Wikipedianern als „Konsens“ definiert hat, hat nicht automatisch den Untergang der Wikipedia zur Folge. Im Gegenteil ergänzt sie das ohnehin heterogene Meinungsspektrum um einen weiteren Standpunkt, dem sich wiederum neue Benutzer anschließen können. Und die brauchen wir, um die fehlenden 100 Millionen Einträge irgendwann doch noch schreiben und die 700 000 schlechten oder suboptimalen Artikel weiter verbessern zu können.

Die Nöte des Drschrotti mit der Schleckmuschel

Schleckmuscheln - multi-colored

Erinnert sich jemand an Schleckmuscheln? Für diejenigen, die die 80er verdrängt haben: Schleckmuscheln, auch bekannt als Leckmuscheln, sind niedliche Süßigkeiten, bei denen man die übliche Zucker-Aromastoff-Mischung aus einer muschelförmigen Schale lecken muss. Anscheinend existieren sie noch, denn ein offensichtlicher Teilnehmer der Schleckmuschel-Industrie schlug letztes Jahr in Wikipedia auf. Womit man rechnen sollte: die Schleckmuschelindustrie ist nicht so friedlich wie es Ihrem Produkt entspräche.

Seit 2008 gibt es einen Schleckmuschel-Wikipedia-Artikel. Leider ist der Schleckmuschelmarkt wissenschaftlich nicht erschlossen, so dass sich die Quellensuche als schwierig gestaltete und die Schreiber auch auf einfache Websites in ihrer Recherche zurückgreifen mussten. Am 15. April 2009 enthielt der Artikel unter anderem den Satz:

Schleckmuscheln werden von der Firma Trawigo produziert und vertrieben.[1]
Belegt ist der Satz mit einem Link zum Unternehmen Trawigo. Trawigo nun wiederum nimmt die Website irgendwann vom Netz.

Das nun wiederum führte zum Auftritt von Drschrotti. Drschrotti hat eine Schleckmuschelobsession; sämtliche Beiträge dieses einst hoffnungsvollen Jungwikipedianers drehten sich um die Schleckmuschel. Um genau zu sein, darum, die Schleckmuschel von Trawigo zu trennen. Sein erster Beitrag ist ein Löschantrag gegen die Trawigo-Erwähnung, der dann auch die gesamte Argumentation zusammenfasst:

Diese Behauptung suggeriert, daß Trawigo die Schleckmuscheln als einzige Firma produziert und vertreibt. Das ist nachweislich absolut falsch !!! Es verzerrt den Wettbewerb und verschafft der Firma Trawigo einen unlauteren Vorteil. Das um so mehr, weil jeder der in google Schleckmuschel sucht dies vorfindet:


Nun bringt Drschrotti leider keine Nachweise über weitere Hersteller und erweitert das Wissen, sondern er legt nach, der Trawigo-Geschäftsführer sei 79!

Die nicht-Überzeugten Wikipedianer kriegen zu hören, dass sie gar nicht seriös seien, nicht akribisch prüfen würden, und der Schleckmuschelmarkt der Wettbewerbsverzerrung unterläge. Zwei Tage später zeitigen die Tiraden Erfolg. Trawigo existiert auch in der Wikipedia nicht mehr, der Schleckmuschelartikel existiert weiterhin; nur weiß kein Leser mehr, wo die kleinen Schleckmuscheln eigentlich herkommen.

Was schade ist: Drschrotti, wenn Du mehr weißt, dann sage es doch einfach. Das würde allen Beteiligten mehr helfen als vage Rants im Nebel der Überlegenheit. Liebe Wikipedianer: man kann Euch auch instrumentalisieren, wenn man löschen statt werben will. Liebe Leser: Falls sich hier jemand mit Schleckmuscheln auskennt..

Bauer Beck fährt weg

Nachdem ich seit achtneun Tagen abends nichts anderes mehr vorlesen darf als dieses Buch, ist es, denke ich, Zeit für eine kleine Rezension.

"Bauer Beck fährt weg". Alles fängt damit an, dass die Magd Toni plötzlich Urlaub machen will. "Irgendwer muss die Hühner füttern" meint Bauer Beck. "Irgendwer muss aber auch eine Sandburg bauen" meint die Toni und weg ist sie auf ihrem Motorroller. Fährt Bauer Beck eben auch in Urlaub. Aber das ist gar nicht so einfach, denn da sind noch die ganzen Tiere. Nachdem radikale Lösungen erwogen ("Schlachten, alle schlachten" murmelte Bauer Beck") und verworfen wurden, packt Bauer Beck die ganze Bagage, Hund, Kuh, Kälbchen, Pferd, Ziege, Schaf, Schwein, Hühner und die beiden Streithähne auf seinen Anhänger und tuckert auf seinem hellblauen Traktor gen Meer.

Damit beginnt Bauer Becks Kampf gegen engstirnige Verbote und Bürokratie. Ohne Papiere dürfen die Tiere nicht über die Grenze, am Strand ist das Zelten verboten, auf dem Zeltplatz zwar das Zelten erlaubt, aber Hunde verboten, und auch die Hotelunterkunft gestaltet sich schwierig.

Die Sprache des Buchs nutzt sich mit ihrem Wortwitz und festen Wendungen, die das ganze Buch durchziehen ("Nichts zu machen?" fragte Bauer Beck. "Nichts zu machen."), selbst nach dem x-ten Vorlesen nicht so leicht ab. Die Dialoge kann man auch recht gut zu zweit vorlesen.

Der wirkliche Knüller sind jedoch die Zeichnungen von Daniel Napp (schon bekannt aus Dr. Brumm fährt Zug). Wie er es schafft, Hund, Kuh, Kälbchen, Pferd, Ziege, Schaf und Schwein, die sich über die Theke der Hotelrezeption lehnen, jeweils einen ganz eigenen Gesichtsausdruck zu verpassen, muss man gesehen haben. Die Campingplatzeinfahrt, graue Funktionsarchitektur mit dahinter ein paar Wohnwagen – verloren liegt auf dunkelgraugrünem Rasen ein Ball. "Der Ball ist traurig", meint das Kind beim Vorlesen dazu jedesmal. Bildkomposition und Aufbau sind durchdacht und passen perfekt zum Inhalt.

Technische Daten
Bauer Beck fährt weg von Christian Tielmann (Text) und Daniel Napp (Illustrationen)
Sauerländer, 32 Seiten
Alterempfehlung 5 - 7 Jahre (kann man durchaus runterschrauben)
Elternvotum: Kultbuch
Kindervotum: Kultbuch

So, jetzt bin ich auch nur ein Viertelstündchen zu spät zum Traktormontag, zu dem ich diesmal Bauer Becks schönen Oldtimer (einen Eicher?) einreiche. Und nächstes Mal gibt es wieder einen schönen saftigen Verriss, man kann ja nicht dauernd über den grünen Klee loben... Ich hab da noch ein paar Kandidaten auf Lager.


Montag, 25. Oktober 2010

Die seltsamen Bräuche der Wikipedianer: Die Präventivsperre für Castingshowteilnehmer

Wikipedia-Unterseiten bergen doch so manches Geheimnis und sind voller Überraschungen. Eine der instruktiveren damit, welche Probleme sich stellen, und wie die real existierende Wikipedia in dieser Hinsicht ist Wikipedia:Präventivsperre für Castingshowteilnehmer.

Die Seite existiert seit 2008, ist weitgehend unkontrovers und tatsächlich in Benutzung. Sie ist Folge langjähriger Grundsatzdiskussionen, die schließlich mehr oder weniger zum Konsens führten, dass alleinige Teilnahme an einer Castingshow nicht ausreicht, um länger eine gewisse Mindestbedeutung für die Welt zu haben.

Grundsätzlich funktioniert die Seite so, dass der geneigte Wikipedianer Namen von aktuellen Castingshowteilnehmern auf ihr einträgt. Zu diesen Teilnehmern können dann keine Artikel mehr angelegt werden, es sei denn der designierte Autor findet eine andere Schreibweise des Namens. Zu Ende der Staffel werden die Namen wieder entfernt, motivierte Schreiber können die Artikel theoretisch wieder anlegen.

Die Logik hinter der Seite ist einfach, sie zeigt recht instruktiv, wie sich Wikipedia Grundkonflikte in der Praxis ausspielen. Die theoretische Forderung nach Offenheit und Einzelfallprüfung gegen langjährige schlechte Erfahrung. Die theoretische Einsicht, dass man auch einen 25-jährigen Nachwuchssänger enzyklopädisch aufbereiten kann ohne Persönlichkeitsrechte zu verletzen, gegen die Erfahrung, dass diejenigen, die es könnten, sich im Normalfall nicht für DSDS interessieren.

Aber ach, was soll man sagen: natürlich ist es anmaßend schon im voraus wissen zu wollen, wer wichtig ist, wer nicht, zu wem man etwas sinnvolles schreiben kann, zu wem nicht. Andererseits: jede Erfahrung zeigt, dass bei Castingshowteilnehmerartikeln nicht niemals nie etwas anderes eingetragen wird, als die neusten Presseschnipsel von RTLSATPROARD. Und nein, es ist keine gute Idee, Wikipedia als Presseoutlet der genannten Fernsehsender zu mißbrauchen. Und ja, die Diskussionen um unpräventiv gesperrte Teilnehmer waren oft sehr emotional, sehr destruktiv, und beiderseits nicht unbedingt von Empathie geprägt. Die Präventivsperr-Seite trägt eher zur Stimungsverbesserung bei.

Aber es ist anmaßend! Und borniert!

Sonntag, 24. Oktober 2010

Darummagichberlin (XIII)

Kirchhof stahnsdorf nebelarbeiten ohne adresse

Südwestkirchhof Stahnsdorf
.

In einer verwandten Mitteilung. Der Schmalspur-Schneeschleuder-Gastblogger hat gestern über dem Bulgogi angekündigt, eine Gegenserie "darumhasseichberlin" aufzumachen. Ich harre voller Spannung der Dinge, was wir vor dem 31.10. noch davon sehen werden.

Nordseewetter, I rejoice

Der Wind, er braust.
Das Blatt, es saust
an mir vorbei.

Eine Buche knörzt.

Samstag, 23. Oktober 2010

Wer braucht Twitter, die Revolution will SPD-Ortsvereine

Tief in meinem Inneren, sehr verschüttet und zum Glück meistens in die Gehirnecke verbannt, in der auch meine Lateinkenntnisse vor sich hin darben, sitzt ein kleiner Leninist und langweilt sich sehr. Nur manchmal, bei gewissen Schlüsselreizen, springt er auf und rappelt herum. Wenn ich kurz nacheinander erst SPD und dann Revolution lese. Dann springt er hervor und jubelt "erschießen", "erschießen", "erschießen."

Den Moment muss ich ihm nachsehen. Nach Jahren des Dunkelns in hinteren Gehirnecken ist er so ein bißchen überschwenglich und neigt zu überschießendem Enthusisasmus. Also rege ich ihn ein bißchen ab, und wir einigen uns auf "organisieren", "organisieren", "organisieren".

Im Vorwärts steht eine lesenswerte Diskussion. Ich wiederhole: Im Vorwärts steht eine lesenswerte Diskussion, zum Thema soll die SPD ihre Ortsvereine abschaffen. Das Pro Abschaffung argumentiert mit der Konsequenz mit der die Partei ihre Ortsvereine vernachlässigt, das Kontra damit "Die Ortsvereine sind die Schaufenster, durch die die SPD und ihre Politik wahrgenommen werden." Leider erklärt das auch, warum die Ortsvereine so darben wie sie darben: wer mag schon die mitbestimmungslose Schaufensterpuppe für die tragische Komödie sein, die sich in der SPD-Zentrale abspielt. Wer mag schon seinen Kopf hinhalten für etwas, was so einfach erkennbar in seiner eigenen Zentralen-Realität gefangen ist, und nur noch sehr schwach etwas mit der Realität eines Ortvsereinsmitglieds zu tun hat.

In Deus-Ex-Machina-Blog wiederum setzt sich Nicander A. von Saage mit der These auseinander, dass S21 erst so durch Twitter möglich gewesen wäre. Das könnte man vielleicht empirisch lösen, indem man die Leute fragt, woher sie kommen, was sie gesehen haben, und nachdem man das dann ergründet hat, wieso Spon und Tagesschau welche Bilder gebracht haben.

Norddeich wolkenberge dunkler
Ein Sturm wird kommen, la la la lala la la la lala la la la la. Ein Sturm wird kommen und meinen Traum erfüllen. Und meine Sehnsucht stillen, die Sehnsucht mancher Nacht.


Nur geht das am Problem vorbei: S21 ist nicht die Tatsache, dass da viele Leute auf einmal hingehen, das allein wäre bedeutungslos. Es ist kanalisierte Wut über ein entfremdetes politisches System, über Entscheidungen deren Sachzwänge in anderen Realitäten stattfinden als die der Bürger. Diese Wut ist da, unabhängig von Twitter. Die Gruppen gegen S21 sind da, schon lange, schon ohne Twitter. Sie haben die Infrastruktur bereitet, die jetzt Argumente liefert, Veranstaltungen organisiert, Redner und Sprecher organisiert, Alternativen vorstellt etc: kurz, die das machen, was in einer funktionierenden repräsentativen Demokratie ein Ortsverein machen würde.

Twitter kann Erregungskurven antreiben, im Zweifel noch Ort und Datum verbreiten. Wer allerdings meint, dass eine erregte Menschenmenge, die sich von 14 bis 23 Uhr trifft, politisch etwas bewegt, der hält auch das possierliche Berliner Frühjahrsprügeln für den revolutionären ersten Mai.

Die Politik braucht nicht unbedingt SPD-Ortsvereine. Aber sie braucht Organisation. Kontinuität an der Basis, den Willen mal länger als drei Wochen an einem Thema zu bleiben, und den Willen, den Ansatzpunkt zu finden. Das macht oft keinen Spaß, ist anstrengend, gibt nur manchmal ein knackiges 140-Zeichen-Statement ab, ist aber die Grundlage auf der alles andere läuft. 100.000 Menschen auf einem Platz sind nach einem Nachmittag wieder weg. Und sobald sie weg sind, sind sie politisch uninteressant.

(so, und wer bis hierhin durchgehalten und noch Zeit und Energie hat, darf dann auch noch den Gladwell-Artikel lesen, der alles ausgelöst hat. Lohnend.)


Freitag, 22. Oktober 2010

Die Wikipedia-Admin-Umfrage ist da

Dort um genau zu sein. Diese Umfrage.

Nach erstem querlesen: 56 Rückläufer, davon haben knapp 30 statistisch auswertbare Angaben gemacht.

Die 30 immerhin haben mein subjektives Bauchgefühl netterweise vollauf bestätigt: >50% haben einen Uni-Abschluss, der Durchschnittsadmin ist bereits seit Mitte 2004 dabei, kein einziger sieht sich politisch als konservativ, den katastrophal niedrigen Frauenanteil konnte man ja schon vorher auszählen, da brauchte ich kein Bauchgefühl für. Imposante 3% halten die Community unter den Admins für toll, die ausformulierten Angaben verraten viel Frust aber auch viel Kreativität und Spaß.

Mehr, wenn ich die Ergebnisse etwas gründlicher gelesen habe.

An der Bülowstraße abends um acht - Melda Akbaş: So wie ich will

In der Bülowstraße in Berlin-Schöneberg abends um acht kommt Melda Akbaş abends nach Hause und führt dann wahrscheinlich Auseinandersetzungen mit ihren strengen Eltern türkischer Herkunft. Darüber hat sie das Buch So wie ich will geschrieben.

Ein Buch, das ich durchaus gern gelesen habe, mich dem ich mich aber auch unwohl fühle. Es fängt bei dem seltsamen Untertitel an "Mein Leben wwischen Moschee und Minirock", nette Alliteration, nur kommt Minirock im Buch gar nicht, und Moschee eher am Rande vor - vor allem Sinne, dass Akbaş sie den größten Teil der Zeit schwänzt. Bei Bertelsmann verlegt, unter anderem in Focus und Deutschlandfunk besprochen, ist es die Geschichte einer 18jährigen, wie sie es wohl tausendfach gibt; nur schreiben die anderen bestenfalls Blogs oder Facebookeinträge.

So ein bißchen entzieht das Buch sich ja der Kritik: will man eine 18jährige Deutsch-Türkin, die, durchaus alterstypisch, auch noch eine gewisses Grundleiden am Leben mitbringt, auch noch vorwerfen, sie könnte nicht schreiben? Oder ihre Geschichte sei langweilig? Oder der Einband doof? Und da es so sehr autobiographisch ist, ist da nicht jedes "das Buch ist nicht gut" ein "das Leben ist nicht gut?"

Im Großen und Ganzen handelt das Buch die letzten zwei Jahre im Leben von Akbaş ab. Sie schriebt über die Zeit im Charlottenburger Edelgymnasium, das Engagement in der Schülervertretung, und der Wechsel an ein Kreuzberger Gymnasium. Auseinandersetzungen mit den Eltern spielen eine wichtige Rolle. Geschrieben in einer klaren, direkten Sprache, kommt immer wieder die Großfamilie vor, einzelne Kapitel sind Exkursionen wie der Islamunterricht, der Familienrat, oder der Türkeiurlaub.

Die Exkursion sind meines Erachtens der lesenswerteste Teil des Buches. Lebendig, mit einer Einsicht in andere Welten, und unbedingt Lust machend, an einem der Familienräte mit Anwesenden aller Altersgruppen, zwischen überzeugten türkischen Dorfbewohnern und militanten Atheistinnen teilzunehmen. Dort lebt das Buch, und Randbemerkungen, wie das Akbaş' Mutter im Dezember Ramadan-nachfastet, weil da die Tage so kurz sind, bringen einem Leben und Alltag näher.

Die Haupthandlung jedoch bleibt mir ferner, obwohl sie eigentlich näher sein müsste. Sie handelt von Akbaş' Engagement in der Berliner Schülververtretung. Ein Großteil des Buchs nimmt ihr politisches Projekt "Let's organize somethin'" ein, dass mit "Workshops zum Thema zivilgesellschaftliches Engagement" "Schülerinnen und Schüler mit Migrationshintergrund zu mehr Beteiligung in Politik und Gesellschaft" befähigen soll. "Integration soll durch Empowerment erreicht werden." Das Projekt ist in seinem Scheitern schon fast idealtypisch für derartige Projekte von Nachwuchspolitikern. Akbaş wundert sich aber genauso wie der Leser, warum öffentliche Aufmerksamkeit sowohl der Medien als auch der staatlichen Stellen in keinem Verhältnis zum Desinteresse der direkt Betroffenen und Angesprochenen steht. In der großen Geschichte von Akbaş Erwachenenwerden steckt noch eine kleine Geschichte über das Scheitern wohlmeinender Politikprogramme zum "Empowerment" aus Unverständnis heraus.

Eher ungewöhnlich allerdings nimmt Akbaş sich dieses Scheitern zu Herzen; sie meint, dass sie so wenig über die Deutsch-Türken weiß, und Probleme hat, sie anzusprechen. Sie wechselt freiwilligen an ein Kreuzberger Gymnasium, in dem nur zwei Schüler im ganzen Jahrgang deutsche Großeltern haben. Dort allerdings kommt sie mit diesen zwei Schülern und dem Mädchen mit den italienischen Eltern besser klar, als mit den Deutsch-Türken. So erzählt sie wieder einmal die Geschichte wie unsinnig es ist, Migranten oder Deutsch-Türken oder Jugendliche als eine große homogene Gruppe zusehen, oder wie unsinnig es ist, aus der Ferne eine Person zur Sprecherin dieser Gruppen machen zu wollen.

Einerseits ist So wie ich will ein sehr ehrlich wirkendes direktes unterhaltsames Buch, dass mir den Einblick in ein Leben nur wenige hundert Meter entfernt eröffnet. Andererseits habe ich die ganze Zeit das Gefühl, dann doch ein Werk der Gattung Nachwuchstechnokraten-Powerfrauenliteratur zu lesen. Das wäre richtig schön, würde es mir erzählt, es wäre ein unterhaltsames und lehrreiches Blog. Aber als deutschlandweit wahrgenommenes Buch, das als wichtige Stimme in der Integrationsdebtte wahrgenommen werden soll? Das ist dann wohl doch eine Nummer zu groß.

An der Bülowstraße abends um acht - Bejte Ethiopia

Manchmal erweist sich die hohe Zahl wirklich netter Restaurants hier in der Gegend als äußerst hinderlich. "Du, wir könnten auch mal zum Äthiopier, von dem wir schon so vieles guten gehört haben.." - "Jaa, aber da kommen wir an dem Inder vorbei, und dem Spanier, und dem Koreaner, und die sind alle näher und wir gehen kein Risiko ein." Stimmt schon, aber "wenn wir hintenrum gehen?" - "Dann ist da der Norweger, und der Thai." Hm, und durch den Park? "Der Sarde. Und der andere Sarde." Es bedeutet eine gewisse emotionale Anstrengung, um sich in auf kulinarische Erkundung zu begeben.

Aber nun ja, wir haben uns strikt vorgenommen, allen Verlockungen zu widerstehen, und direkt ins Bejte Ethiopia zu gehen. und nehmen vorsichtshalber den Bus bis direkt vor das Ziel. Die Kurfürstenstraße und Bülowstraße sehen immer noch so aus, als wäre "Wir Kinder vom Bahnhof Zoo" gestern mit den Dreharbeiten fertig geworden. Die Terrasse des Bejte Ethiopia bietet einen netten Ausblick auf einen Swingerclub; leider aber werden wir dem neuen Gästen dort am Eingang aber nicht zusehen können, weil es ist KALT.

Drinnen ist es voll, soweit ich sehen konnte, haben sie wirklich jeden einzelnen Sitzplatz gefüllt, unsere Reservierung ist aber netterweise direkt neben der Kaffeezeremonie. Der Laden ist, ich würde mal sagen traditionell, geschmückt, ohne allerdings kitschig zu wirken, die Bedienungen sehen ähnlich aus, befinden sich aber auch noch jenseits der Grenze zum Ethnokitsch. Ehrlich gesagt wirkt es vor allem einladend und gemütlich, und die artistischen Leistung, mit der sich die Bedienung durch die engen Gänge schlängelt bleibt den Abend über beeindruckend.

Während wir fröhlich schon mal bestellen und äthiopisches Bier trinken (eher wässrig), röstete die Dame neben uns Kaffee, mahlt ihn und serviert ihn dann zusammen mit Popcorn. Das Essen bestand aus traditionellen Spültuchbrot Injera mit der großen Auswahl von allem etwas. Für diejenigen, die es nicht kennen: man isst, indem man mit der Hand Stücke vom Brot abreißt, und mit diesem dann von der den Speisen in der Mitte aufnimmt.

Das Injera fasziniert mich jedesmal wieder, wenn ich es in der Hand habe, die Speisen waren durchgehend lecker. Linsen mit Senf überraschend aber gut, die scharfe und sehr aromatische Sauce zum Rind ein echtes Erlebnis, scharfe Linsen erwartungsgemäß gut, und das Sauerkraut(?) bildete einen sehr angenehmen Akkord. Die Bedienung war aufmerksam, wir hatten mittlerweile zum Mango-Bier gewechselt (deutlich besser), und das erste mal in einem Restaurant waren drei Stunden um, als ich dachte, es wäre eine halbe gewesen.

Sofern wir es also je wieder schaffen, uns am Inder und am Thai und am Sarden vorbeizuschmuggeln, werden wir sicher wieder da sein. Zumal, zum Abschluss, man bei Starbucks beispielsweise fast mehr für einen Cino-uppe-latte-eis-milch-zucker plus Muffin ausgibt, als wir für frisch gerösteten Kaffee und ein außerordentliches Essen.




Ist reverten pietätlos?

Nachdem mein eigentlicher erster Gastbloggerbeitrag erst halbfertig ist, gebe ich mal meinen Einstand mit einer interessierten Frage an die geneigten Leser: Ist reverten in einem Artikel über eine gerade verstorbene Person pietätlos?

Donnerstag, 21. Oktober 2010

Eine Insel mit zwei Bergen

Ein weiterer Schritt im Kampf für unterdrückte Kulturthemen, die der gemeine Wikipedia-Admin nicht ernst nimmt: Lummerland existiert. Wie man sieht, erstmal mit dem großflächigen Relevanznachweis "existiert auch außerhalb des literarischen Hauptwerks", und noch weit entfernt von Heidi in Japan. Aber ein bißchen Zeit haben wir ja noch, bevor Wikipedia implodiert.


Der Wie-geht-das-Laden

Leere Malls sind romantisch, aber schlechte fürs Geschäft: eine häufige Kombination. Nun sind Mallbetreiber eher unromantisch. Der hier um die Ecke ist auf eine eigentlich kreative Idee gekommen: man gebe Räume für wenig Geld an unkommerzielle Zwischennutzungen. Eine davon scheint eine Art philosophische Lebensberatung zu sein. Nun hetz ich da zwar öfters vorbei, aber reingehen?

Sinnsuchung an sich, kann man ja gerne mal betreiben. Auch tief kontemplieren, der Sache auf den Grund gehen und so ein paar natürlich scheinenden Strukturen im Leben hinterfragen. Aber so im Einkaufszentrum zwischen Uhrenbatteriewechsel, Zahnpastakauf und Buchladennichtkauf?

Ich frage mich da ja immer eher: wo kriege ich noch ein neues Bücherregal unter? Was unterscheidet sich Zahnweißzahnpasta von anderer? Weniger: was ist der Sinn des Lebens? Gäbe es nun ein Ladengeschäft, in das man kurz reingehen kann, und so die brennenden Fragen des täglichen Lebens stellen kann - ich wär dabei.







Was mache ich wenn mein Pudel schlecht erzogen ist?




In Zeiten des Internets dürfte das auch gehen. Man stelle zwei Freiwillige da rein (Crowd-Social-bla begeisterte halt), die nicht ganz auf den Kopf gefallen sind, geben ihnen einen Internetanschluss, ein kleines Bücherregal, und einen Würfel für die Liebt-er-Mich-Fragen, und vielen Fragen des Lebens dürfte abgeholfen werden. Halt Wikipedia zum reingehen in tatsächlich lebenstauglich.

Wenn man dann noch das Wikipedia-Logo draufsetzt, vielleicht ein paar Kaffee verkauft, und dann eine Spendenkasse aufstellt, sollte sich das für alle rechnen. Das Einkaufszentrum hat einen pressetauglichen Publikumsbringer, Wikipedia hat man wieder allen Menschen geholfen, und ich weiß, wo ich mein Bücherregal hinquetsche.

Liebe Kinderfahrrad-im-Kofferraum-transportier-Fahrer,

wenn Ihr mit Eurem Mittelklassekombi so eng auf die Fahrradspur zieht, dass ich bei der Zwangsvollbremsung fast über den Lenker fliege, dann setzt das ein wirklich unschönes Beispiel.

Mittwoch, 20. Oktober 2010

Deli muda: was Wikipedia verschweigt

Gerade noch gerettet, bevor ein Löschadmin kam. (Volltext-Zitat)

Deli Muda auch bekannt als Dei Mudda wird häufig in der jugendsprache als schimpfwort benutzt Nun man darf nich vergessen dass es auch andere Wörter gibt wie z.b dei vadda dei schwesta und soweiter.


Noch ein Wikipedist: nicht nur Sonnenschein und Regenbogen und Händchenhalten

Wikipedia vergreist und wird ungeheuer gewöhnlich. Eine überaus angenehme Nebenwirkung dieses Prozessses ist: der rosarote Rauch verfliegt, der schwarzdunkle Rauch verfliegt auch ein bißchen, und ein paar Wikipedisten beginnen tatsächlich einen halbwegs realistischen Blick auf Wikipedia zu werfen, ohne gleich mit einer Vorstellung anzufangen, wie sie sein sollte.

Nataniel Tkacz zum Beispiel - mit seinem Text Wikipedia and the Politics of Mass Collaboration, veröffentlicht in Platform: Journal of Media and Communication - ist so einer. Erstmal kuckt er erstmal und überprüft seine Theorien.

Als skeptischer Wikipedianer kann man beim lesen sagen: Wow, großer theoretischer Aufwand, ein Miniaturausschnitt einer Diskussionsseite, und am Ende kommt raus, dass es auch Machtbeziehungen in der Wikipedia gibt. Da hat wieder jemand Bagger und Traktor geholt, um ein Alpenveilchen einzupflanzen.

Tkacz bemüht erst diverse Collaboration-Theorien und stellt fest, dass diese mit wenig Inhalt gefüllt sind, und vor allem einen Gegensatz zu Hierarchisch, marktförmig, dominanzförmig etc. bilden. Diejenigen Inhalte, die sie haben, vergleicht er dann mit einer Wikipedia-Diskussion - ein Diskussionsausschnitt zum Thema, ob Wikipedia Mohammed abbilden darf oder nicht. Er kommt wenig überraschend zum Ergebnis, dass diese Wikipedia-Diskussion eigentlich keineswegs so abläuft, wie sie nach der Collaboration-Theorie ablaufen sollte, und, Respekt, er wechselt die Theorie anstatt Wikipedia die Schuld zu geben.

Dann holt er Chantal Mouffe und deren Kritik des post-Politischen heraus, mit einem Plädoyer, das politische zu ergänzen. Er modifiziert sie um Christoph Spehrs Taxonomie der Dominanz und Mark Elliotts Stigmergic Collaboration. Tkacz visiert an, so einen theoretischen Zugriff auf große Kollaborationsprojekte zu bekommen, die das politische in solchen Strukturen nicht ausblenden.

Ich gebe zu, der Text ließ mich beim ersten und zweiten Lesen eher verwirrt zurück; die Tatsache, dass utopistisch angehauchte Kooperationsmodelle semantischer Leere nicht wirklich angebracht sind, um Wikipedia zu beschreiben, ist dem Wikipedianer an sich nun keineso große Überraschung. Dass Wikipedia weder macht- noch politikfrei verläuft, merkt man bei entsprechenden Interessen auch schnell. Und dass man Mouffe oder Elliott benutzen könnte, um über Wikipedia zu denken; ja, schon, könnte man; wie auch viele Andere. Nur muss es mal jemand machen.

Mittlerweile habe ich aber festgestellt, dass Tkacz' Text im Rahmen seiner Dissertation entstanden ist. Und da hab ich wieder die Hoffnung, dass Chantal Mouffe, Mohammad und Nathaniel Tkachz noch eine gewinnbringende menage a trois eingehen werden. Ein politische Theorie der Wikipedia-Kooperation fände ich nun wirklich spannend.


Kein Scherz. Pasta im Kochbeutel.

Mein Pflücksalat und ich gehen bei Penny zur Kasse, draußen regnet es in Strömen, der Schritt wird schlurchender, immerhin ist es im Penny warm und trocken. Blicke schweifen, und landen bei der Lebkuchenherzen, der neuen Zitty, Pasta im Kochbeutel, und Handyangeboten. Pasta im Kochbeutel? Warum? Wozu? Ist reinwerfen - 10 Minuten warten - rausholen - essen, jetzt wirklich eine Herausforderung, die man Menschen abnehmen sollte?

Investigatismus überkommt mich, und führt mich zur Birkel-Aktionsseite. Die ist so deprimierend, dass mein Investigatismus sofort wieder erlahmt. Pasta-im-Kochbeutel-Essen sind laut Birkel anscheined eher jung und Wortschöpfungen aufgeschlossen.

Die Mikrowelle wird zur Mikro, die Pasta ist gelingsicher, das ganze ist perfekt im Handling - wer erinnert sich nicht, wie er mühselig die vollkommen unhandlichen Spaghetti in den Topf bugsieren musste.

Der Kochbeutel selbst besitzt breite Griffzone, Mikroperforation für rasches Abtrocknen, eine Aufreißkerbe zum leichten Öffnen, und eine Gabellasche für bessere Handhabung. Stimmt, Penne mit Gabellasche hatte ich vorher noch nie.

Das beste aber: Endlich ist es möglich, verschiedene Nudelsorten gleichzeitig zu kochen – in einem Topf!

Bitte Menschheit! Gib mir meinen Glauben an Dich zurück. Nicht kaufen.


Necropants, my friends. Necro. Pants. And this is why Iceland is fucking METAL.

Einer der nettesten Wikipedia-Wettbewerbe der letzten Zeit fand außerhalb der Wikipedia statt. Wie schon kurz angesprochen hat das Blog Got Medieval zusammen mit einem amerikanischen Kostümverleiher rechtzeitig zu Halloween zu einem Wettbewerb aufgerufen:


I want to find the weirdest claim about the Middle Ages** on Wikipedia.*** And I mean the weirdest. That's right--so weird that normally oriented typefaces fail to capture the weirdness, requiring the use of type variants that are tilted slightly to the right!


Got Medieval hat heute den Gewinner bekanntgegeben:

Sadly, I'm not sure if my favorite bit of historical amusement from wikipedia falls into the correct time period. The wiki says "medieval" but the actual written source is much later. Never the less, for your amusement:

"In medieval Iceland there were several magical staves, or rune-like symbols credited with magical effects."

Including:

"Nábrókarstafur - Necropants, a pair of pants made from the skin of a dead man that are capable of producing an endless supply of money."

Necropants, my friends. Necro. Pants. And this is why Iceland is fucking METAL.

From http://en.wikipedia.org/wiki/Icelandic_magical_staves


Soweit ich das verfolgen konnte stammt der einzig auffindbare ursprüngliche Beleg vom Isländischen Museum für Magie und Hexerei, niemand weiß ob es stimmt, aber die Geschichte ist gut erfunden.

Andere Einträge sind der Mann mit der Bratpfanne aus der Festungsmauer, die isländische Blutrache, die Tote verhindert, Weißwangengänse, die der mittelalterlichen Kirche nach Fische und keine Vögel waren oder auch

"According to the narrative, sometimes set in Portugal, a teen-aged noblewoman named Wilgefortis had been promised in marriage by her father to a pagan king. To thwart the unwanted wedding, she had taken a vow of virginity, and prayed that she would be made repulsive. In answer to her prayers she sprouted a beard, which ended the engagement. In anger, Wilgefortis's father had her crucified." http://en.wikipedia.org/wiki/Wilgefortis



Alle Einträge gibt es bei im ursprünglichen Post von Got Medieval in den Kommentaren.


Dienstag, 19. Oktober 2010

Darummagichberlin (XII)





Komisches Gefühl, ich kann keine Buchhandlung mehr Ansehen ohne nostalgisch zu werden.

Falls noch ein Wikipedist ein Thema sucht: Community divide

Inspiriert vom Goldman-Text zwei drunter: "Digital Divide: Veränderungen in der Selbstrekrutierung der Wikipedia-Community. Von kreativen Alleskönnern hin zu Spezialisten." Unterthese: während Wikipedia am Anfang Leute anzog, die etwas ins Nichts hinein erschaffen wollten, kommen jetzt Leute nach, die sich in Strukturen einfügen.

Dabei bilden sich mindestens zwei Spezialiserungen heraus: Artikelschreiben, das einerseits immer anspruchsvoller und intellektuell herausfordernder wird, aber auch weniger Freiheiten gewährt; andererseits Erhaltung (sprich: Vandalenjagd und Verwaltung), das immer mehr auf einen echten Verwaltungsjob mit dementsprechend erforderlichen Fähigkeiten und Bedürfnisssen.

Wikipedistik: warum die Autoren wegbleiben

Wikipedia hat ein Problem. Ein tiefes, strukturelles, langfristiges, sozusagen eine Miniaturversion des demographischen Wandels: mehr Leute gehen als kommen, und diejenigen, die bleiben, sind weniger aktiv als ehedem.

Nun hab ich schon mal vor ein paar Wochen ein "Wikipedia muss Autoren bezahlen" in die Runde geworfen, aber was ist schon ein kleiner Blogpost gegen die Unbilden der Welt.

Umso erfreulicher, dass jetzt ein längerer, fußnotengesättigter Aufsatz im Journal on Telecommunications and High Technology Law erschienen ist, der genau diesen Punkt macht. Eric Goldman hat unter dem Titel "Wikipedia's Labor Squeeze and its Consequences" (pdf) die strukturellen Gründe für die dahinschwindende Beteiligung aufgeschrieben, als auch einen Ausblick auf potenzielle Lösungsvarianten geworfen.

Wer sich den keinen 30-seitigen Aufsatz in Englisch antun mag, kann im Indigenous People’s Literature Weblog eine Zusammenfassung lesen, oder natürlich einfach hier bleiben für die Oberflächenfluffvariante.

Goldman sieht es als gegeben an, dass Wikipedia immer einen recht großen Personalbedarf hat, da allein Vandalen und Spammer eine nicht zu unterschätzende Arbeitslast darstellen. Um mit diesen Vandalismusspammern fertigzuwerden, hat Wikipedia diverse technische Hürden vor dem editieren aufgestellt, die aber nun zwangsläufigerweise einschränken, dass mögliche Mitarbeiter hinzukommen.

Allerdings:

Although Wikipedia has successfully resisted significant technological barriers to editing, I think its main barriers to user participation currently are social

bei diesen sozialen Barrieren zählt er auf:
* viele Newbies haben kein Anfangserfolgserlebnis, weil ihre ersten Edits gleich wieder gelöscht/rückgängig gemacht werden.
* zum Teil aufgrund genereller Xenophobie bei diversen Autoren, die sich im Zweifel verstärkt je länger mit Spammern und Vandalen zu tun hat und eine "erstmal zurück"-Mentalität entwickelt.

insider xenophobia is a more significant incursion on free editability than any technological measure because it leads to quick screening of user
contributions — both illegitimate and legitimate.

Und selbst wenn man die ersten Schritte erfolgreich überstanden hat, ist es noch ein aufwendiger Weg zum Insider:
The contributor is expected to build a user page, learn Wikipedia-specific technological codes, discuss proposed changes with other editors before editing an entry, submit to an arcane dispute resolution process, learn a “baffling culture rich with in-jokes and insider references,” and survive a sometimes rough-and-tumble milieu.

Oder anders gesagt: die (Arbeits/Zeit)-kosten sind hoch, und nicht jeder ist bereits so hohe Investitionen aufzubringen, nur um relativ ungehindert in Wikipedia editieren zu können.




Neulinge sind besonders verwundbar.





Gleichzeitig aber leidet Wikipedia wie jedes Freiwilligenprojekt an einer hohen Aussteigerrate: Lebenszyklen/Zeitvorräte ändern sich, Freiwillige sind nach Monaten/Jahren politischer Auseinandersetzung ausgebrannt, andere ertragen die eintönige Vandalismuskontrolle nicht mehr etc. Zudem hat sich Wikipedia entwickelt:

[Wikipedia] now emphasizes incremental enhancements and site maintenance. Site maintenance requires different skill sets and personalities from those required to build the site, and people who enjoy building sites may not enjoy maintenance as much

Während die Kosten sowohl bei Altautoren als auch für potenzielle Neulinge im Laufe der Jahre gestiegen sind, bleiben die Anreize im wesentlichen gleich. Unter den drei Hauptanreizen: intrinsisch, monetär, reputational, bietet Wikipedia nur intrinsische Anreize. Monetäre Anreize gibt es nicht direkt, aber selbst indirekte Verwertung von Kenntnissen und Erfahrungen trägt in der Community ein hohes Stigma mit sich, und vermindert so rapide die Stellung des Users innerhalb der Community. Reputation gibt es wenig zu ernten, die Tatsache, dass es von Außen nur mit Mühe eruierbar ist, wer überhaupt was getan hat, senkt den möglichen Reputationsgewinn weiter.

Goldman vergleicht Wikipedia dann mit Projekten der Free and Open Source Software (FOSS). Dort sind in den erfolgreichen Projekten oft Angestellte externer Firmen in ihrer Arbeitszeit tätig, die Programmierer selbst lernen Fähigkeit, für die es auf dem Arbeitsmarkt eine direkte Verwendung gibt.

Langfristig sieht Goldman die Bedrohung, dass Wikipedia mit den bisherigen Maßnahmen nicht mehr aufrecht zu erhalten ist:

My concern is that Wikipedia’s heavy reliance on this labor supply reduces its pool of potential contributors to replace departing editors. The number of people willing to contribute to Wikipedia without any cash or credit is a relatively small fraction of people willing to contribute to UGC [User Generated Content] communities. Further, Wikipedia must constantly and successfully compete for these people’s attention against other activities and hobbies, including those activities that offer them cash or credit.

Als langfristige Lösungsmöglichkeiten hält er für möglich:

* Technische Schranken soweit erhöhen, dass Vandalen und Spammer praktisch keine Arbeitsbelastung mehr sind.
* Leute direkt bezahlen
* Möglichkeiten wie bei FOSS finden, bei denen Menschen in ihrer Arbeitszeit mit Wissen und Zustimmung der Arbeitgeber editieren.
* Wikipedia akademikerfreundlich gestalten, was für den Anfang heißt, Artikel namentlich zu kennzeichnen und zuzuordnen.
* Oder in Zusammenarbeit mit Universitäten diese Akademiker zumindest dazu bringen, dass sie ihre Studenten Wikipedia-Artikel schreiben lassen.

Ich enthalte mich mal jedes Kommentares. Es glaubt mir vermutlich eh niemand, dass ich nicht Eric Goldman bin, und wir nicht voneinander abschreiben.

Link: Wikipedia's Labor Squeeze and its Consequences (pdf) im Journal on Telecommunications and High Technology Law.

Wikipedia is peculiar. Its brilliance is in its peculiarity.

Der Chronicle of Higher Educiation hat ein kleines Artikelchen, "What if We Ran Universities Like Wikipedia?"; nettes Gedankenexperiment, aber wie der Artikel selbst sagt noch sehr unausgereift.

Treffend aber ist das Zitat vom skeptischen Siva Vaidhyanathan:

Wikipedia is peculiar. Its brilliance is in its peculiarity. It’s also more static, intellectually conservative, and elite-governed than most people believe.

Die Forschungsaufgabe, wie und warum Wikipedia an diesen Punkt kam, wäre noch auszufüllen.

(via @PeHa64 alias Peter Haber alias weblog.histnet.ch)

Nebenbei: gulli.com sagt was ähnliches, hat dabei aber deutlich mehr Schaum vor dem Mund. Leider ist bei gulli auch die Zahl echter inhaltlicher Fehler im Text so spektakulär hoch, dass ich es aufgegeben habe, sie aufzählen zu wollen.

Montag, 18. Oktober 2010

Traktormontag: Anfang mit einem Knall

Andere haben Flauschcontent am Sonntag, hier gibt es Trecker Treck am Montag. Als Neu-Berliner lebt man ja auf Entzug, die Schwerpunkte der Szene ist weit weg, und der eine arme Trecker Treck in Brandenburg, hat letztes Jahr auch nicht stattgefunden.

Ab jetzt also Full Pulls, Bremswagen, Panzermotoren und 60er-Jahre-4-PS-Traktoren am Montag, vielleicht kriege ich ja auch elian dazu, die Kinderbücher mit Traktoren am Montag zu besprechen. Und sollte unser untergetauchter Gastblogger je wieder auftauchen, weiß der vielleicht auch was.

Aber erstmal ein Anfang mit Wumms.





Wikimedia "optimiert Schulungsmaterialien"

Wikimedia Deutschland gibt bekannt, dass sich eine unbekannte Zahl von Menschen unbekannter Zusammensetzung in einer unbekannten Stadt Essen trifft, um unbekannte Schulungsmaterialen "zu optimieren". Diese arbeiten dann mit unbekannten Einzelkontakten zusammen, um an Schulen Wikipedia zu erklären. Einige Termine unbekannter Menge und Orts stehen bereits fest. Aber es gibt ein Infoblatt.

Ziel des ganzen Projektes "ist es, durch klare, bedürfnisorientierte Informationsangebote grundlegende Kenntnisse um die Methoden und Strukturen der Wikipedia zu vermitteln."

One Man: One Joke. Eine komische Welt ohne Urheberrecht

Eine herausragende Eigenschaft an guten Wissenschaftlern besteht darin, dass sie sich ab und an fragen, wie es wäre, wenn alles ganz anders wäre. Es beispielsweise gar keine Urheberrechte gäbe. Und da auch noch einen konkret diesweltlichen Fall finden, wo eben diese formalen Rechte zumindest praktisch nicht existieren.

Dotan Oliar und Christopher Jon Sprigmans haben in Intellectual Property Norms in Stand-Up Comedy, Teil ihres Buchs The Making and Unmaking of Intellectual Property und erweiterte Variante diverser Aufsätze aus den letzten Jahren, genau diesen Fall gefunden: Stand-Up Comedy.

Stand-Up-Comedy hat theoretisch nach urherrschender IP-Lehre ein ausgeprägtes Geistiges-Eigentums-Problem; praktisch auch, aber ein Anderes. Comedy ist de facto Urheberrechtsfreie Zone, da der inhaltliche Schwerpunkt der Comedians ja im Witz, also der nicht-schützbaren Idee, steckt. Oliar/Sprigman zeigen aber, dass zumindest heute ein effektives soziales System existiert, welches Witz-Klau weitgehend verhindert. Es basiert auf verschiedenen Ausgrenzungssystemen, die in seltenen Extremfällen hin bis zu tolerierter körperlicher Gewalt reichen können, Hauptmittel aber scheint es zu sein, einem beschuldigten Dieb durch verschiedenen Mittel die Auftrittsgelegenheiten zu nehmen.

Eine Auswirkung des Systems ist relativ vorhersehbar, wenn man weiß wie das mit formaler und informeller Regeldurchsetzung ist. Das in der Comedy vorherrschende informelle System gestaltet sich weit simpler und einfacher als formelles Urheberrecht. Ein Witz gehört einer Person, weder existiert eine gemeinsame Autorenschaft, noch Zusammengehörigkeit in den Rechten am Witz, noch unübertragbare Rechte. Einfach, simpel, pragmatisch.







Beim Witzeschreiben steht jeder für sich allein.





Was Oliar/Sprigman aber auch erläutern, und zumindest teilweise auf das geänderte Bewußtsein zum Geistigen Eigentum schieben, ist die veränderte Einstellung zu Originalität und Aufführung innerhalb der komischen Zunft. Der geschützte Witz enstand erst in den 1960ern/1970ern, vorher war Material auch informell frei. Die Comedy-Landschaft hat sich geändert.

Comedy war Anfang und Mitte des 20. Jahrhunderts noch auftrittszentrisch: mit Tanz, Gesang, Kostümen etc. wurde eine begrenzte Zahl von generischen Themen und Witzen abgehandelt, die sich gut weitererzählen ließen und oft nur aus zwei oder drei Sätzen bestanden. Heute hat sie sich inzwischen zu einem autorenzentrischen Feld entwickelt. Einsame Männer oder Frauen stehen bewegungslos vor einem Mikrophon und erzählen originelle, längere ineinander verschachtelte Geschichten. Deutlich anspruchsvoller, aber auch weniger sozial - Comedy entwickelte sich vom Feld des Austauschs perfekt inszenierter Banalitäten hin zu einem des Zuhören und passiven Konsumierens anspruchsvoller Texte.

Das Wikipedia-Autoren-Paradoxon

Seltsame US-Klimaverschwörer schreiben komische Rants und übertreiben. Aber in einem haben Sie recht:

William Connolley, a man you have probably never heard of, has been the world’s most influential global warming alarmist after Al Gore, He was influential, not through his research or the force of his arguments, but simply through his administrative position at Wikipedia.


"World's most influential" ist arg viel, aber das seltsame Mißverhältnis zwischen Bekanntheit und Einfluss, Breitenwirkung und Reputation, ist schon seltsam. Das ist das irritierende am Wikipedia Autorendasein: sofern nicht eine kleine Stephenie Meyer in einem steckt, kann man publizieren was und soviel und so gut bezahlt wie man will: man wird nie wieder eine derartige Breitenwirkung haben.

Samstag, 16. Oktober 2010

Wikipedia-Stammtische sind gar nicht so schlimm

Ein Nachtrag zum Nachtrag zum Stammtischpost. Da ja auf meine Ankündigung hin zum Berliner Stammtisch in der Resonanz niemand kam, der nicht-Wikipedianer ist. Und da und außer Cirdan (großer Gewinn!) auch niemand Neues da war, mal einfach eine live-Übersetzung für Nicht-Wikipedia-Stammtischgeher wie ein 15-Personen-Stammtisch in einer netten eingewohnten Szenekneipe so vor sich geht, und welche Themen eigentlich besprochen werden; wie abgekapselt oder nicht es ist und welche Verschwörungstheorien so stattfinden. Ich kann natürlich nur von den Themen erzählen, die ich zumindest mitbekommen habe, also ist das nur ein kleiner Ausschnitt.

Der Wikimedia-Deutschland-Geschäftsführer ist trotz Ansage nicht gekommen, was nicht auf ungeteilte Zustimmung stieß.

Wo wir schon beim Thema waren:

Gibt es Alternativen zur jetzigen Vereinsstuktur? Wird es irgendwann möglich sein, den Finanzhaushalt so aufgeschlüsselt so kriegen, dass er aussagt wieviel Geld beispielsweise in das Schulprojekt geht, und wieviel in das Literaturstipiendium? Sollte das nicht im Sinne von Open Data und Open Government ein vordringliches Ziel sein? Sind die WP-Presseberichte eigentlich mehr oder besser geworden in den letzten Jahren?

Erlebnisse aus dem Japan-Urlaub: der Artikel Heidi in Japan untertreibt eher, als dass er übertreibt, Heide war wirklich allgegenwärtig. Knapp gefolgt aber von Pinocchio.

Der Platz der Luftbrücke ist schrecklicherweise seit einigen Monaten von Touristengruppen überlaufen.

Lohnt es, sich für 3 Euro/Artikel den Stress mit METIS und der VG Wort anzutun? Und wieviel bleibt von den drei Euros so übrig wenn mehr als 5 WP-Autoren mehr als 10 Testartikel anmelden? Der Gesamttopf bleibt ja gleich.

Klaus Wowereit steigt keine engen Treppen empor, wenn die Pressemeute auch mit muss.

Charlottenburger interessieren sich skandalöserweise nur wenig für den Schwarzen Graben.

Was macht der Qualitätsbeaufragte im Vereinsvorstand? Zumindest eine Teilantwort gibt es übrigens hier im Blog.

Deutschland-Türkei im DFB-Fanblock ist ein eigenwilliges Erlebnis.

Es gibt tatsächlich gebildete Berliner, die Rolf Eden nicht kennen. Tss.

Futschi schmeckt wie ranziger Weinbrand oder ehemalige Ostcola oder West-Cola ohne Kohlensäure oder Liebstöckel oder Rosmarin oder Cola-Gummibärchen. Muss beim nächsten mal näher ergründet werden.

Die alte Bilddekoration in der Resonanz war besser als die Neue.

Hostels, die in Berlin weiter wie Pilze aus dem Boden schießen.

WP-Artikel schreiben ist im Bezug zur wissenschaftlichen Reputation relativ neutral; für Wissenschaftler, die zumindest vor dem Lehrstuhl um ihr Leben schreiben müssen, also extrem uneffektiv. Dafür wird es halt tatsächlich gelesen.

Darummagichberlin (XI)





Von Wilmersdorf aus gesehen, ist der Osten auch 2010 noch wild. Er erfordert den Einsatz erfahrener Safariführer.

Freitag, 15. Oktober 2010

Darummagichberlin (X)

In diesem Fall eher darummagichschönenberg. Der Tagesspiegel hat ein lesenswertes Portrait der Belziger Straße, die hier in unmittelbarer Nachbarschaft liegt, und fasst zusammen, was ich an hier mag.

Perlen wie das Straßenbahndepot oder das Postfuhramt, die fern jeden Hypes oder jeder stadtplanerisch-künstlerischen Herausputzerei einfach da sind. Die Weltoffenheit, die eine Szene mitsichbringt, durch die Jahre reduziert um Hype, Schaumschläger und die ganze Anstrengung, die Szene mit sich bringt; glücklicherweise durch tausende von Besuchern schon auf ihre bleibenden Werte abgeklopft. Und weil Schöneberg-Nord nahe ist, auch nicht im Oberlehrer-Professoren-sein erstarrt, sondern mit reichlich Dönerien, Obstläden, jungen Menschen und Abwechslung. Nur ins Narkösestübchen trau ich mich seit Jahren nicht.

Der Tagesspiegel: Belziger Straße - Willkommen im Narkosestübchen.


Ein nichtkommerzielles Bezahlsystem

Kachingle hat gerade eine große Aktion am laufen: Rettet die New York Times Blogs vor der Paywall. Die Alternative aus Kachingles Sicht ist natürlich auch klar: nutzt Kachingle. Nun bin ich bei solchen Aktionen innerlich immer zwiegespalten: einerseits halte ich Social Payment-Systeme wie Kachingle für eine der besten Ideen, um Inhalte im Internet zu finanzieren, je mehr Teilnehmer sie gewinnen, desto mehr Geld im System, desto besser. Wenn die New York Times hilft, diese zu popularisieren, umso besser.

Andererseits: wenn wirklich ein großer Player wie NYT, Spon etc. an Bord geht, wird das ganze sehr schnell ein Winner-Takes-it-all-Markt werden, und der politisch anstrengende Hinterhofblogger wird nicht der Winner sein.

Da trifft es sich gut, Sean Kollak von Twick.it gerade die Idee zu einem Alternativsystem hat. Er schlägt ein "Soziales Bezahlsystem zur Förderung freien Wissens" vor. Das würde sich an bestehenden Anbietern wie Kachingle orientieren, aber von einer Stiftung etc. verwaltet und nur gute Inhalte fördern:


Weil dahinter kommerzielle Unternehmen stehen, die mit der Förderung freien Wissens nichts am Hut haben, sondern in erster Linie an ihren eigen Profit denken. Sinnvollerweise sollte das neue Bezahlsystem von einem etablierten Anbieter wie Wikimedia gestemmt werden.

Wie schon mehrfach in Iberty angesprochen, kommt es bei einem solchen Bezahlsystem auf Vertrauen in die Macher/Verwalter an. Und gerade was Geld angeht, weiß ich nicht, ob bei der Verwaltung größerer Geldmengen wirklich Non-Profits die Besseren sind. Die Geschichte sozialer/nonkommerzieller/politischer Banken ist ein noch größeres Trauerspiel als die Geschichte kommerzieller Banken. Wenn ich mir aktuell gerade die Geschichte um die Wikimedia gGmbh-Gründung ansehe, ist die auch kein überzeugendes Beispiel dafür, ausgerechnet eine Organistion wie Wikimedia mit Geldverwaltung zu betrauen.

Was allerdings eine gute Forderung an Kachingle, Flattr et al wäre: Open Source zur Vertrauenssicherung des Systems. Vielleicht findet sich eine Stiftung, die das macht, vielleicht kriegen die kommerziellen Anbieter die Kurve.

Kollak schlägt dann noch Kriterien dafür vor, wem ein solches System zur Verfügung stehen sollte:

1. Die Website, auf der die Inhalte veröffentlicht wurden, muss nicht-kommerziell sein und darf keine Werbung enthalten
2. Förderungswürdige Inhalte müssen unter einer CC-Lizenz (oder einer sonstigen freien Lizenz) veröffentlicht werden
3. Geförderte Inhalte dürfen nicht im Nachhinein kommerzialisiert werden
4. Es sollte sich um Wissen handeln und nicht um reine Meinung oder pure Unterhaltung

Ich glaube, mit diesen Anforderungen, würde es schwer, Wikimedia dazu zu bewegen, das Projekt zu stemmen. Wikipedia selbst verfehlt klar Kriterium Nummer 3 und deshalb rückwirkend vermutlich auch Kriterium Nummer 1. Ich sehe es für die Zukunft eines solchen Systems als problematisch an, wenn es eine der Hauptattraktionen direkt ausschließt.

Die Probleme von Kriterium 4 spricht Sean ja gleich selbst an; ich bin mir zum Beispiel nicht sicher, ob sein eigener Post jetzt nicht reine Meinung ist? Und wer soll das entscheiden? Fünf Minuten Arbeitszeit eines Social-Payment-Mitarbeiters für eine Entscheidung, deren Auswirkungen dann bestenfalls im Cent-Bereich liegen? Ich halte das für eine Fehlallokation.

Mein Alternativvorüchlag wäre eine radikale Vereinfachung: förderungswürdig in einer solchen Konstruktion ist, was unter einer freien Lizenz steht. Punkt. Das ist übersichtlich, verständlich, und lässt sich vermutlich auch programmieren.

Für das soziale Bezahlsystem für freie Lizenzen: ich denke das hat tatsächlich große Zukunft. Mit einfachereren Kriterien als vorgeschlagen, gerne Open Source, vielleicht von einer Stiftung, vielleicht aber kriegt ja auch Kachingle oder so den Bogen und programmiert dafür eine Möglichkeit.

Donnerstag, 14. Oktober 2010

Kurzrezension Rauf Ceylan - Die Prediger des Islam

Islamisten bauen in Deutschland keine Moscheen, weil sie aus dem Land der Ungläubigen eigentlich so schnell weg wollen wie möglich (wenn nur nicht die Gläubigen in lauter Diktaturen lebten in denen gefoltert wird..), türkische Imame finden ungezogene Jugendliche noch schlimmer als es deutsche Lehrer tun, glauben aber dass die deutsche Gesellschaft gute disziplinierte Jugendliche verdorben hat.

Mit etwas Pech wird einem beim Freitagsgebet in Neukölln ausführlich vorgerechnet, wieviel Almosen ein Bauer pro Hektar zahlen muss. Türkei-Türken, die Deutschland-Türken treffen, haben oft den Eindruck, eine Zeitreise in die 1970er zu unternehmen.

Soweit ein paar der interessanteren Erkenntnisse, die aus der Lektüre von Rauf Ceylans "Die Prediger des Islam" gewonnen hab. Ceylan selbst ist Religions- und Sozialwissenschaftler, und hat für seine Studie bewundernswerterweise das Vertrauen von einer Anzahl Imame verschiedenster Moscheen und Gemeinschaften gewonnen.

Sein Buch ist wohltuend unaufgeregt, der Autor hat offensichtlich tiefen Einblick in das Thema. Er zeichnet so ein vielfältiges Bild islamischer Kultur in Deutschland. Er vermittelt so den dringend gebrauchten Einblick in den Alltag der deutschen Moscheen - oft problematisch, aber doch weit entfernt von den Pauschalierungen, die den Diskurs so oft beherrschen.

Er schildert die Probleme von Imamem, die meist aus dem Ausland kommen und selber meist mehr Probleme haben sich in der deutschen Gesellschaft zurechtzufinden, als ihre Gemeindemitglieder; den Konflikt zwischen liberaleren-westlich/deutscheren Jungen und traditionellen Gastarbeitern, die in den 1960/1970ern nach Deutschland kamen, und oftmals die Moscheevereine beherrschen. Die Entfremdung, die so in den Gemeinden entsteht, die Probleme, die besonders die oft abgeschottenen Männer-Cafes bereiten, und die prekäre Lage fast aller Imame, die nicht fest im türkischen Staatsdienst stehen. Er schildert mühsame Modernisierungsbemühungen, und den Versuch Gemeinden auf eine Art und Weise zu betreuen, die der Umgebung angemessen ist.

Erschreckend die Interviews mit den Imamen, die Ceylan selbst als Neo-salafitisch beschreibt, oft Autodidakten, nur demokratiefeindlich mag man das nicht mehr nennen, und das einzig etwas beruhigende Fakt aus Sicht eines Deutschen, ist dass sie die "falschen (verwestlichen) Muslime" für deutlich geeignetere Ziele im bewaffneten Kampf halten als die gänzlich Ungläubigen.

Ein kleiner Nachteil: Ceylan ist Vertreter eines progressiven Islam, der sich in einer engen Abstimmung mit dem deutschen Staatswesen entwickeln soll. Das ist an sich nicht das schlechteste Ziel, und von den Handlungsempfehlungen, die er am Ende aus seiner Studie zieht, hat er mich überzeugt. Dass er aber das quasi Buch hindurch quasi niemand unkommentiert sprechen lassen kann, ohne auf die Irrungen dieser Meinung hinzuweisen, ist ein bißchen anstrengend..

"Neo-Salafiten", umgangssprachlich wohl als Islamisten bezeichnet, intellektuell auszuhebeln hat ein bißchen den Schwierigkeitsgrad wie in Twitter eine Massenhysterie auszulösen. Da das Zielpublikum dieses Buches auch noch kaum in den abgeschotteten Hinterhofmoscheen liegen dürfte, und deren Besucher zudem jede Menge von Ceylans Prämissen nicht anerkennen würden, ist das ein bißchen eine fruchtlose Übung, die im Zweifelsfall unnötigerweise nur betont, wie gemäßigt Ceylan doch selber ist.

Zum Laizismus und dem kooperativen Verhältnis zwischen Staat und Kirche andererseits habe ich beispielsweise eine dezidiert andere Auffassung als Ceylan, und fühle mich dezent bevormundet, wenn er auf einer halben Seite mal kurz einschiebt, warum die gar nicht stimmen kann.

Das fällt aber eher in die Rubrik kleinlicher Stilkritik. Insgesamt ist das Buch sicher eines der lesenswertesten zur deutschen Gesellschaft des 21. Jahrhunderts, das ich in den letzten Jahren gelesen habe.