Montag, 11. Oktober 2010

Deutsche Wikipedia zu unnahbar, um geliebt zu werden [Citation needed]

Die englische Wikipedia blinkt, die deutsche präsentiert sich glattpoliert minimalistisch. Während der deutsche idealtypische Artikel aus Text, wenigen wohlgesetzten Bildern und einer kleinen Anzahl sorgsam kuratierter Links besteht, beinhaltet der englische Artikel Citations, Citations-needed-Hinweise, bunte Warnhinweisen in allen Größen, manchmal blinkend und ungefähr vier Hinweise, dass man mitmachen kann, falls man Expertise über syrische Handballspieler mitbringen kann.

Deutschsprachler geben sich minimalistischer. Die deutsche Wikipedia-interne Argumentation läuft dabei entlang der Linien: wenn da ein Fakt steht und keine Fußnote daneben, dann ist es offensichtlich, dass der Fakt nicht durch eine Fußnote erklärt ist. Wenn ein Artikel nur aus zwei Sätzen besteht, muss man nicht auch noch daneben schreiben, dass er sehr kurz ist. Wenn ein Artikel nur aus einer Liste besteht, muss man nicht daneben schreiben, dass er nur aus einer List besteht. Wir halten unsere Leser ja nicht für blöd. Und für kompetente Autoren stellt es eine Zumutung da, andauernd solche Hinweise in ihren Artikel zu finden.

Nun möchte ich den englischen Wikipedianern nicht unterstellen, dass sie ihre Leser für blöd halten, aber vielleicht einfach für weniger aufmerksam. Warnungen und Hinweise prägen das Erscheinungsbild der englischen Artikel. "Dieser Artikel ist sehr kurz", "Dieser Artikel ist sehr lang", "Dieser Artikel ist so mittellang, könnte aber länger sein" "Dieser Artikel über eine peruanische Gebietskörperschaft berücksicht keinen globalen Standpunkt", "Diese wilde Ansammlung von Sonderzeichen ist keine englische Sprache", etc. Und natürlich das allgegenwärtige [Citation needed], das sich schon als Teil der Popkultur etabliert hat.

Nun sind diese Hinweise im Einzelfall in fast allen Fällen verzichtbar. Als Leser stolpere ich oft genug über Stellen, an denen ich mich frage, ob meine fellow Wikipedians vielleicht die Zielgruppe der dressierten Schimpansen ansprechen wollen. Andererseits vermitteln alle Bausteine zusammen vielleicht doch die Botschaft, die Sue Gardner in ihrem Blogpost People trust Wikipedia because we tell them not to anreißt:

Wikipedia is just aiming to tell people the truth, and it’s refreshingly honest about its own limitations. ... disclaimers are added to pages by honest editors who are trying to help. They may not themselves be able to fix an article, but at the very least, they want to help readers know what they’re getting into.


Wikipedia ist eine Baustelle, war es immer, wird es immer sein. Da gibt es Gerüste, fahrlässig unfertige Bauteile, provisorischen Pfusch und wenn man jedem einen Hammer gibt, gehen auch mal eigentlich gute Bauteile wieder kaputt. Die deutsche Wikipedia versucht über das Bauvorhaben und das Hintergrundgeschehen so transparent wie möglich zu sein, springt den Leser damit aber nicht an. Wer sich für Staub und Lärm und Handwerkerschnack nicht interessiert, soll nicht damit belästigt werden, und könnte dadurch glauben, in einem fertigen Gebäude zu stehen.








Hab! Mich! Lieb!








Die englische Wikipedia weist jeden Hammer mit einem Schild "dies ist ein Hammer und hier wird damit gehämmert" aus. Das ist anstrengend für Leser und Schilderschreiber. Vielleicht schafft es wirklich Vertrauen, vielleicht verstärkt es auch nur Vorurteile der Unprofessionalität. Aber auf jeden Fall erzeugt es Sympathien. "Hier! Sind! Wir! Wir tun unser Bestes, aber sind fehlbar" erzeugt vielleicht doch auf Dauer mehr Grundsympathie als die Wichtel-im-Dunkeln-Methode.
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5 Kommentare:

Tim 'Avatar' Bartel hat gesagt…

Das Schlimmste ist eigentlich der Hinweis über dem Artikel http://meta.wikimedia.org/wiki/How_to_deal_with_Poles

Aschmidt hat gesagt…

Der [Citation needed]-Hinweis sollte auch in der deutschsprachigen WP eingeführt werden. Ich finde ihn wesentlich besser als unsere QS-Bausteine, die gleich den ganzen Artikel oder einen ganzen Abschnitt in Frage stellen.

Anonym hat gesagt…

Ich bin mir nicht sicher, ob die vielen Baustellenschilder beim Leser wirklich besser ankommen.

Dabei sollte man auch die Befindlichkeiten der Leser berücksichtigen. Der Amerikaner hat da vielleicht andere Ansichten als der Deutsche.

AndreasP hat gesagt…

Ich finde die en.wikipedia sogar extrem unnahbar, durch die vielen Vorlagen und Sperenzchen ist der Quelltext noch viel unlesbarer als bei uns.

Aber auch de.wikipedia ist "unnahbar", das ist schon richtig. Nach Jahren des Aufblähens von Vorlagen-Programmierung und Regelwerk ist es uns nicht gelungen, den spaßigen, einfachen Wiki-Charakter beizubehalten.

Als erstes müssten wir konsequent alle Reverts, Ansprachen und Ahndungen, die auf formalen Fehlern beruhen, endlich einmal aus der Wikipedia verbannen, WP:AGF ins Bewusstsein zurückholen, die Relevanzkriterienseite endlich wieder auf zwei, drei Regeln eindampfen und vor allem den überbordenden Vorlagen-, Vereinheitlichungs- und Navigationswahn bändigen.

dirk franke hat gesagt…

@Avatar,

Ja und Nein. Eigentlich ja, andererseits ist ironieverständnis aber nun tatsächlich anspruchsvoll, und wenn man bedenkt, dass viele Nicht-Muttersprachler da lesen, ist der Hinweis bei aller Bescheuertheit vermutlich einer der sinnvolleren.

@Aschmidt,

meine Meinung zur QS ist nicht mal dann öffentlichkeitsfähig, wenn ich sie diplomatisch formuliere. Ob [Citation needed] hilft? Ich mein, wenn da kein Nachweis steht, ist offensichtlich, dass nicht zitiert ist. Meine These ist ja eher, dass unwichtig ist, was da genau steht und wichtig, dass überhaupt irgendeine Art von Baustellenschild dasteht oder nicht.

@liesel,

Ich weiß es nicht. Ganz allgemeinernd denke ich tatsächlich, dass der Amerikaner bei der US-Wikipedia eher denkt "vertrauenserweckend" und der Deutsche "unprofessionell". Aber andererseits: wir sind unprofessionell.

@AndreasP,

ich glaube wir sind etwas auf verschiedenen Ebenen. Jemand, der den Quelltext sieht hat ja schon ein recht hohes Maß an Engagement aufgebracht und gehört zu einer Minderheit der Wikipedia-Nutzer. Mir ging es jetzt grade tatsächlich eher um Vertrauen und Sympathie in der Gesellschaft der Leser an sich - und die wird nie den Quelltext sehen.