Freitag, 27. April 2018

Wasserball gegen Homophobie. SG Regenbogen Neukölln und der SSV Esslingen.

Man stelle sich die Szene vor: Hertha BSC spielt das letzte Spiel der Saison in Solidarität gegen Homophobie in Regenbogenhosen und Trikots. Der Mannschaftskapitän kann leider nicht mitspielen, weil er sich beim Aufhängen der Regenbogenfahne im Stadion verletzt hat. Und im Café verkauft derweil ehrenamtlich Bayern München Solidaritätsbier für einen Euro.

SG Neukölln vor dem Spiel


Klingt absurd – ginge es um Fußball. Absurd ist das aber nicht im Wasserball. Denn so ist es geschehen. Nur spielte nicht Hertha BSC, sondern die SG Neukölln. Und das Bistro besetzte nicht Bayern München, sondern die Wasserfreunde Spandau 04. Wobei Spandau 04 sehr viel erfolgreicher spielt als Bayern. Und das ganze trug sich nicht im Olympiastadion zu, sondern in der Allianz-Arena des Berliner Wassersballs: der Sport- und Lehrschwimmhalle Schöneberg.


Im Spiel. Angriff auf das Neuköllner Tor.

Zum ersten Mal beim Wasserball


Ich habe in meiner Kindheit im Verein geschwommen und war gar nicht so schlecht. Ich habe dann in meiner Jugend nicht nur American Football, sondern auch Handball gespielt und war immerhin einst  Kreismeister im Kleinfeldhandball im Landkreis Hannover. Die logische Verbindung aus Handball und Schwimmen – Wasserball - ignorierte ich bis zu diesem Tag.



Vielleicht resultierte meine Ignoranz daraus, dass der SC Langenhagen einfach nie Wasserball anbot – vielleicht auch aus der gewöhnungsbedürftigen Ästhetik der Öhrchen-Badekappe. Dabei hat Hannover mit den Wasserfreunden Hannover und Waspo Linden durchaus eine Wasserball-Tradition. Selbst der deutsche Olympia-Stützpunkt für Wasserball befindet sich in Hannover. Dennoch ignorierte ich diesen Sport komplett. Entfernt wusste ich, dass Wasserball existiert. Welch ein Fehler!

Es war ein Samstag


Um genau zu sein, war es Samstag, der 21. April 2018. Zufällig waren wir samstagabends in Berlin, weil Madame bei einer Geburtstagsfeier eingeladen war. Eigentlich war ich auch eingeladen, aber dank eines kommunikativen Missverständnisses erfuhr ich das erst nach der Geburtstagsfeier. Mein erstes anvisiertes Alternativprogramm - die Party der Wikimedia Conference - zerschlug sich, weil das internationale Publikum einheimische Berliner erst ab 21:30 Uhr zuließ.

Mannschaftsaufstellungen vor dem Spiel. Neukölln erkennbar an den Badehosem.


Ebenso zufällig hatte ich überhaupt mitbekommen, dass das Spiel stattfinden würde. Wasserballspiele muss man aktiv suchen. So also radelte ich im Sonnenuntergang meinen Berliner Lieblingsboulevard, den Sachsendamm, hinunter und hielt an der präbrutalistischen Maya-Ruine der Berliner Bäder Betrieb, an der Sport- und Lehrschwimmhalle Schöneberg.

Der (kostenpflichte) Parkplatz war spärlich gefüllt, die freien Parkplätze an der Straße daneben voller und auch Fahrräder waren einige abgestellt. Es spielten:

Die SG Neukölln gegen den SSV Esslingen 

um den fünften Platz der Wasserball-Bundesliga. Es war ein Playoff-Spiel. Neukölln hatte das Hinspiel im Merkel’schen Bad in Esslingen bereits gewonnen. Mit einem Sieg hier wäre Neukölln fünfter der Bundesliga. Bei einem Esslinger Sieg hätte es am nächsten Tag ein Entscheidungsspiel in Schöneberg gegeben.

Esslingen kommt aus Schwaben, um genau zu sein aus dem direkten Umland von Stuttgart und gehört zu den Urgesteinen der Wasserball-Bundesliga. Mit knapp 3.000 Mitgliedern dürfte der Verein zu den größeren Schwimmvereinen Baden-Württembergs gehören. Trotz der langanhaltenden Mitgliedschaft in der Bundesliga bleibt der ganz große Erfolg aber aus.

Die SG Neukölln ist mit knapp 5.000 Mitgliedern der größte Schwimmverein Berlins. Als mehrfacher deutscher Mannschaftsmeister im Schwimmen handelt es sich auch im Leistungssport um die erste Adresse der Stadt. Bislang starteten 12 Sportler der SG Neukölln bei Olympischen Spielen und gewannen dabei zweimal Gold und viermal Bronze:

Ilse Meudtner (1928), Cathleen Rund (1996, 2000), Torsten Spanneberg (2000, 2004), Franziska van Almsick (2004, 2008), Dorothea Brandt (2004), Rafed El-Masri (2004, 2008), Britta Steffen (2004, 2008, 2012), Benjamin Starke (2008, 2012), Tim Wallburger (2012), Robin Backhaus (2012), Lisa Graf (2016) und Leonie Kullmann (2016). Im Wasserball allerdings ist Neukölln die klare Nummer zwei der Stadt. Spielen doch in Berlin auch die Wasserfreunde Spandau 04, die seit Jahrzehnten die deutsche Wasserballszene beherrschen.

Wasserball


Für Leser, die ähnlich ignorant wie ich durch das Leben gingen. Wasserball funktioniert ähnlich wie Handball, nur im Wasser. Zwei Teams mit sechs Feldspielern und einem Torwart versuchen, mehr Tore als das gegnerische Team zu erzielen. Das Becken ist 20 bis 30 Meter lang und mindestens 1,80 Meter tief – wobei die Wasserballer, die ja selbst gerne auf die zwei Meter Größe zugehen, auch bei entsprechend niedrigem Becken den Boden nicht aktiv nutzen dürfen. Das Ballspielen mit den Füßen ist erlaubt, aber wenig sinnvoll.

Von außen sieht Wasserball dem Handball sehr ähnlich. Allerdings ist der Ball größer und die Fortbewegung zwangsweise deutlich langsamer – insgesamt ist der Sport also zuschauerfreundlicher. Und für Menschen, die sowas interessiert: man sieht durchtrainierte 2-Meter-Männer in Badehosen. Gespielt wird in vier Vierteln je acht Minuten. Dabei zählt reine Spielzeit, die Pausen sind kurz – zwischen den Vierteln zwei Minuten, in der Halbzeit fünf Minuten.

Eins gegen eins geht immer. Besonders bei der vorderen Paarung.


In Deutschland ist Wasserball Nischensportart. Die Wikipedia kann es wie gewohnt unblumig ausdrücken:

„Ein großes Problem des Wasserballs in Deutschland ist die Frage, ob Wasserball noch als Leistungssport betrieben wird bzw. betrieben werden kann oder ob Wasserball nur noch als Breitensport betrieben wird. Ursachen sind dabei fehlende internationale Spitzenleistungen, die Sponsoren anlocken, um eben Mannschaften finanziell zu unterstützen. Des Weiteren gibt es kaum Profispieler, also Spieler, die sich ihren finanziellen Unterhalt durch Wasserball verdienen. Der Großteil der DWL-Spieler und damit auch Nationalspieler betreiben Wasserball als Hobby, was durch ihren eigentlichen Arbeitgeber bzw. Universität durch wenige Freistellungen usw. unterstützt wird. Wenn Geld bei den Mannschaften fehlt, kann man schlechter trainieren.“

Offensichtlicher Hauptsponsor: eine Praxis für Kieferorthopädie


Anders sieht es in Ungarn, auf dem Balkan oder in Südeuropa aus, wo echte Profiligen existieren.

In Schöneberg


Aber hier geht es um Deutschland, um ein Spiel, in dem der Neuköllner Mannschaftskapitän ausfällt, weil er höchstpersönlich die Regenbogenfahne am Beckenrand aufgehängt hat, und sich dabei verletzte und ein anderer Spieler der SG Neukölln die Plätzchen buk.

Ich bei einem Spiel, das schon irgendwie entscheidend ist, aber andererseits halt um den fünften Platz geht – ist das überhaupt noch ein Trostplatz? Es findet statt in einer Schwimmhalle, die mir persönlich sehr ans Herz gewachsen ist, und wo einzelne Wettbewerbe der Schwimm-Weltmeisterschaft 1978 stattfanden – die aber ebenso offensichtlich seit 1978 nicht einmal mehr einen Maler gesehen hat. Paneele lösen sich von der Decke. Die elektronische Anzeigetafel hat einen deutlichen Fehler. Am Beckenkopf sind kleinere Kachelstücke herausgebrochen – alles sieht mehr nach „Lost Places Berlin“ als nach einem Ort des Hochleistungssports aus.

Die Decke der Sportschwimmhalle Schöneberg


Zum Saisonabschluss hat die SG Neukölln sich etwas ausgesucht. Der Eintritt ist umsonst. Vor dem Eingang gibt es Plätzchen, Sekt und Orangensaft. Vor allem aber:

Das Rückrundenspiel in Berlin wird mit einem bunten Aktionstag gegen Homophobie begleitet, um ein deutliches Zeichen gegen Diskriminierung und für Vielfalt im Wasserball zu setzen. Das Team der SG Neukölln wird sich an diesem Tag in eigens produzierten Regenbogenbadehosen- und Wasserballkappen präsentieren, für interessierte gibt es Informationsstände und ein begleitendes Rahmenprogramm. Die Synchronschwimmerinnen des SC Wedding werden in der Halbzeit unter dem Motto gemeinsam gegen Homophobie auftreten.  Darüber hinaus wird sich Deutschlands erstes schwul-lesbisches Wasserball-Team von Vorspiel SSL Berlin e.V. vorstellen

Anwesend sind etwa 100 Besucher. Und hier war ich richtig verblüfft. Anders als in jedem anderen Sportstadion in dem ich je war(*), lag hier der Anteil der weiblichen Besucher über dem der Männer. Das Publikum war zudem kaum älter als 20 und fachkundig. Es fühlte sich ein wenig an, als wären hier vor allem die Leistungsabteilungen der SG Neukölln und der Wasserfreunde Spandau anwesend. Und natürlich auch Vorspiel Berlin. 

Nach dem Sieg


Die Stimmung war entspannt. Die Menschen schwenkten Regenbogenfähnchen. Man kannte sich und regte sich natürlich über den Schiedsrichter auf. Hinter mir erklärte eine Mutter(?) in breitem Berlinerisch den mitgekommenen Kindern Wasserball und wie das bei Ihnen bei Spandau 04 so ist.

Das Spiel


Neukölln lag die gesamte Spielzeit leicht vorne. Esslingen allerdings machte es den Berlinern schwer. Nutzten die Neuköllner anfangs noch die Überzahlmomente, die sie durch Fouls der Schwaben gewannen, verlegten sie sich im späteren Verlauf auf Würfe aus dem Hinterfeld. Esslingen wirkte in der zweiten Hälfte souveräner. Es gelang ihnen aber nur bis zum Ende auf 11:11 auszugleichen. Im anschließenden Fünf-Meter-Werfen parierte Tim Höhne von Neukölln souverän gleich mehrere Würfe und Neukölln gewann souverän den fünften Platz.

Fast noch eindrucksvoller war die Synchronvorführung in der Halbzeitpause durch den SC Wedding. Ich meine, das Wasserballspielen würde ich zwar sehr viel langsamer und schlechter hinbekommen – aber irgendwie würde ich das schon noch schaffen. Beim Synchronschwimmen allerdings würde ich so gnadenlos untergehen, wenn ich auch nur vage versuchte, was die Frauen da machten. Chapeau.
Ein schöner Abend mit Regenbogenfahnen, Sekt, spannenden Sport, beeindruckendem Synchronschwimmen, Super Badekappen und einem Fünf-Meter-Werfen – in der eindrucksvollsten Schwimmhalle der Welt. Was will ich mehr?


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Die SG Neukölln trainiert im eigenen Freibad, den üblichen Berliner Bädern für Hochleitungsschwimmen und dem Kombibad Gropiusstadt.

Die Wasserballseiten der SG Neukölln und von Vorspiel Berlin.

Der Tagesspiegel war auch mal beim Wasserball und hat geschaut, wie es da so ist.

Ausnahmsweise nichts zum Lesen, sondern zum Ansehen: es gibt einen Videobericht zum Spiel.

 

Anmerkungen

(*) Mit Ausnahme der Frauenfußball-WM 2011 in Berlin. Dort war der Frauenanteil im Publikum ähnlich, aber nicht höher.




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