Montag, 25. Dezember 2017

Wir wir dreimal in Nazareth durch den Kreisverkehr fuhren und den auf Knien rutschenden Indern folgten, um den wahren Grund zu erfahren, warum die Innerdeutsche Mauer fiel

Dieses kleine Land Israel: halb so groß wie Niedersachsen. In Israel leben ähnlich viele Menschen  wie zwischen Nordsee und Harz. Während es aber anscheinend selbst den Oldenburgern, Emsländern, Heidjern und Hann.Mündenern schwerfällt, Begeisterung und Interesse am eigenen Land zu entfalten, fiebert die halbe Weltgemeinschaft mit, um und gegen Israel.

Das Land zwischen Galiläa und Negev, See Genezareth und Eilat lässt die Menschen nicht ruhen. Das Land, das in vielerlei Hinsicht so wirkt, als wäre es jenseits von Raum und Zeit und das doch gleichzeitig so gegenwärtig, erdgebunden und im hier und jetzt präsent ist. Das Land, in dem sich mit der Grabeskirche der heiligste Ort der Christenheit befindet – und dieser wiederum berühmt ist durch eine Holzleiter, die aus politischen Gründen seit über 100 Jahren nicht von der Stelle gerückt werden kann. Aber christliche Pilger müssen sich im Land nicht nur mit der Grabeskirche begnügen.




Madame und ich sitzen im kleinen Miet-Toyota irgendwo in den Bergen Galiläas. Feierabendverkehrsstau. Pick-Up-Trucks um uns herum, japanische Groß- und Kleinwagen. Von rechts mündet eine Straße in die unsere, was fast obligatorisch Hupen, Blinken und Gestikulieren hervorruft. Im Rückspiegel kann ich Mutter und Teen-Tochter im Kopftuch beobachten, die gerade wild zu einer mir unhörbaren Musik singen.

„Schau mal“, spricht mich Madame an. „Die Miracle Bar“ und gleich daneben der Supermarkt „Miracle Shopping“ und ein großes Hochzeitsgeschäft „World of Miracles“. „Weißt Du, wo wir sind?“ „Nö, interessiert mich auch grad nicht wirklich. Ich bin noch damit beschäftigt, nicht im Kleinlaster von links zu landen.“ Eine gute Viertelstunde Feierabendstau und 500 Meter später erreichen wir ein Schild. Ach schau, „Kana“. Der Ort der Hochzeit:

Am dritten Tag fand in Kana in Galiläa eine Hochzeit statt und die Mutter Jesu war dabei. Auch Jesus und seine Jünger waren zur Hochzeit eingeladen. Als der Wein ausging, sagte die Mutter Jesu zu ihm: Sie haben keinen Wein mehr. Jesus erwiderte ihr: Was willst du von mir, Frau? Meine Stunde ist noch nicht gekommen. Seine Mutter sagte zu den Dienern: Was er euch sagt, das tut! Es standen dort sechs steinerne Wasserkrüge, wie es der Reinigungssitte der Juden entsprach; jeder fasste ungefähr hundert Liter. Jesus sagte zu den Dienern: Füllt die Krüge mit Wasser! Und sie füllten sie bis zum Rand. Er sagte zu ihnen: Schöpft jetzt und bringt es dem, der für das Festmahl verantwortlich ist! Sie brachten es ihm. Dieser kostete das Wasser, das zu Wein geworden war. Er wusste nicht, woher der Wein kam; die Diener aber, die das Wasser geschöpft hatten, wussten es. Da ließ er den Bräutigam rufen und sagte zu ihm: Jeder setzt zuerst den guten Wein vor und erst, wenn die Gäste zu viel getrunken haben, den weniger guten. Du jedoch hast den guten Wein bis jetzt aufbewahrt. So tat Jesus sein erstes Zeichen, in Kana in Galiläa, und offenbarte seine Herrlichkeit und seine Jünger glaubten an ihn. 

Ob das hier das richtige Kana war? Oder war die Hochzeit doch im anderen Kana? Was vor allem sagt es über eine Religion aus, wenn ihre Herrlichkeit dadurch offenbart wurde, dass es sie dem Feiern nachhalf? Die Tradition des ausgiebigen Feierns scheint mir im Christentum in den letzten 2000 Jahren gelitten zu haben.

Bevor ich aber weiter theologischen Gedanken nachhängen konnte, musste ich erstmal vollbremsen, um dem Bus auszuweichen. Feierstimmung und Leben waren in Kana deutlich präsenter als christliche Stille und Einkehr. Und Hochzeit passte.



Waren wir doch gerade Teil einer Hochzeit in der Verkündigungsbasilika in Nazareth geworden.
Wir landeten nur in diesem sonntäglichen Feierabendstau, weil wir aus dem Rückweg aus Nazareth waren. Nazareth. Stadt des Jesus von und der Verkündigung

Im sechsten Monat wurde der Engel Gabriel von Gott in eine Stadt in Galiläa namens Nazaret zu einer Jungfrau gesandt. Sie war mit einem Mann namens Josef verlobt, der aus dem Haus David stammte. Der Name der Jungfrau war Maria. Der Engel trat bei ihr ein und sagte: Sei gegrüßt, du Begnadete, der Herr ist mit dir. Sie erschrak über die Anrede und überlegte, was dieser Gruß zu bedeuten habe. Da sagte der Engel zu ihr: Fürchte dich nicht, Maria; denn du hast bei Gott Gnade gefunden. Du wirst ein Kind empfangen, einen Sohn wirst du gebären: dem sollst du den Namen Jesus geben. Er wird groß sein und Sohn des Höchsten genannt werden. Gott, der Herr, wird ihm den Thron seines Vaters David geben. Er wird über das Haus Jakob in Ewigkeit herrschen und seine Herrschaft wird kein Ende haben.

Nazareth. Stadt des Verkehrs. Gelegen in einem Talkessel, dessen Ersteigung Expeditionsfahren nötig macht. Die größte arabische Stadt Israels und mit Sicherheit eine der schlecht erschlossensten Städte des Landes. Pilgertourbusse quälen sich hoch. Und obwohl Sonntag ist, und Nazareth in größeren Teilen christlich, haben noch genügend Geschäfte offen. Menschen laufen auf, neben und über die Straße.

Wir, gewöhnt an, europäische Attraktionen von weit weniger historischer Bedeutung, die dennoch ab fünf Kilometern vorher ausgeschildert sind, gehen davon aus, vage Richtung Nazareth zu fahren und dann einfach den vielen Schildern zum großen Touri-Parkplatz zu folgen. Dann Nazareth selbst. Eine enge Hauptstraße im Tal. Um uns herum blinkende Lichter, hupende Autos, Menschen, die quer über die Straßen wuselten. Ein einsames Schild „Basilika“- „Kannst Du erkennen, wo das hinführt?“, „Nein, vielleicht die Straße weiter runter.“



Einige Kilometer später sind wir uns einig, dass keine Schilder mehr kommen würde. „Kannst Du wenden?“ „In dem Verkehr? Außerdem ist auf dem Mittelstreifen eine Art Absperrung. Da komme ich nicht rüber.“ Also weiter, irgendwann nach links abbiegen, im nächsten Steilhang rückwärts drehen und dann zurück. „Den Kreisverkehr kenne ich. Da waren wir vorhin schon.“ Weiter. Ein Schild erscheint, unklarer Richtungsangabe. „Ich glaube, wir sind vorbei.“  Dann mal wieder durch den Kreisverkehr. Mehrfach geht es so. Am Ende parken. An der Straße halt. Gegenüber Geschäften. Wir sind hier an einem der Top-10-Heiligtümer einer Weltreligion und nicht in der Lage es zu finden. Wir stehen an einem engen Bürgersteig. Neben uns ein geschlossenes Geschäft mit Müll davor. Und nu?



Schauen. Im Gewusel eine größere Gruppe Menschen. Auffallend weiß gekleidet? Sind das Inder? Sie sehen so aus. Und einige krauchen auf den Knien, Arme ausgebreitet, Blick selig nach oben? Sind das Pilger? Gibt es Christen in Indien?

Auch wenn nur ein sehr kleiner Anteil Inder Christen sind, so gibt es doch sehr viele Inder. Wir laufen ihnen hinterher. Madame und ich schlendern entlang der Rückseite mehrerer Geschäfte. Bis plötzlich eine breitere Straße. Dort geparkt zwei deutsche Sportwagen, ein amerikanischer SUV. Geschmückt mit Blumen. Daneben junge arabische Männer im Anzug, junge arabische Frauen in Highest Heels und voller Kriegsbemalung. Am Fotos machen. Pilger strömen. Eine Kirche. Ach, hier ist sie.

Inmitten von Brasilianern, Filipinos, Russen und noch mehr Indern werden wir in die Basilika gerissen. Ein großer Bau, 20. Jahrhundert, Beton. Aber gelungen, dem Himmel zustrebend, die Energie und den Impuls zeigend, den ein gelungener Betonbau verbreiten kann.  Zweistöckig. Unten die Kapelle und die Verkündigungsgrotte. Der Ort, wo der Heilige Geist und Maria ihr denkwürdiges Zusammentreffen hatten.



Menschen drängen sich vorbei. Zwei Franziskanermönche erzählen einem dritten, dass sie schon miteinander in Kapernaum waren.  Weiterhin gilt es rutschende Pilger zu umlaufen. Schauen die immer noch aus Verzückung so himmelwärts oder sind es mittlerweile Schmerzen, die ihren Gesichtsaudruck prägen? Vor uns wuselt ein älteres kanadisches Paar, dass Selfies mit Sich und dem Absperrzaun macht.  Die Grotte bleibt durch ein Gitter abgetrennt. Ergriffene Blicke der Einen dorthin, sich-in-Szene-setzen von Anderen. Viele schaffen es, beides zu kombinieren. Wir fürchten ein wenig, dass die ganz Ergriffenen gleich anfangen ihren Kopf gegen das Gitter zu schlagen.




Der Reiseführer verspricht zwei Stockwerken. Wir finden die Treppe.

Madame und ich betreten das obere Stockwerk, das aussieht wie man sich in Westeuropa eine Kirche vorstellt. Altar vorne, Bänke auf diesen ausgerichtet, eine klare Ausrichtung des ganzen Gebäudes zum Altar hin Menschen stehen vor uns. Wir kommen nicht mehr weiter. Sie bilden einen Gang. Eine Prozession erscheint. Farbenprächtig ausstaffierte Priester, ein strahlender Mann, eine strahlende Frau in Weiß. Begleitet von weiteren Araberinnen in atemberaubenden, farbenprächtigen Kleidern. Sie liefen Richtung Altar.

Wir waren Teil einer arabischen Hochzeit geworden. Fühlten uns plötzlich wie in Berlin. Nur, dass hier für die Araber die katholische Liturgie ablief. Auf Arabisch, aber als solche klar erkennbar. Weltkirche bleibt Weltkirche vom Schwarzwald bis nach Nazareth. Gesänge, die Worte des Priesters. Der Segen des Priesters. Ringübergabe. Ihr dürft Euch küssen. Weinen auf den Bänken.

Wir haben genug gesehen. Schlendern über den Hof. Unterhalb eines Zugangs archäologische Ausgrabungen. Nazareth die Stadt bebt vor Leben, ist im hier und jetzt. Aber die Stadt ist auch alt, Stadt jenseits der Zeit und in der Zeit. Pilger schauen verzückt. Familien lassen sich fotografieren. Hier siegt das Gruppenfoto klar über den Selfie. Menschen mit Schirmen, Schildern und lauten Stimmen führen Gruppen durch die Gegend. An den Hängen die Stadt.

Bilder schmücken den Innenhof. Mariendarstellungen aus aller Welt. Angebracht in den späten 1980ern. Je ein halbes Dutzend Darstellungen aus Italien oder Frankreich. Natürlich auch Bilder aus Nazareth selbst und aus Palästina.



Osteuropa geht in Richtung Ikonendarstellung, Lateinamerika liebt seine Mariendarstellungen bunt. Österreich, ach, Österreich. Ausgerechnet Österreich strebte erfolgreich nach dem ersten Platz für Psychedelik.






Und dann hing da auch noch die deutsche Maria. Gestaltet im Stil zwischen klassischer Sachlichkeit und naiv wirkender moderner Kunst der Zeit. Leicht gräulich, wenig glänzend. Aufgehängt wurde Maria im Sommer 1989. Das Motiv zog uns sofort in den Bann. Eine Mauer. Zwei Menschen, die sich darüber die Hände reichen. Die Symbolik zu offensichtlich, um sie hier darzulegen. Aber es half. Die Mauer fiel nur wenige Wochen später. Und wir wissen jetzt warum. Mauern stehen viele. Deshalb liebe Freunde, zu Weihnachten ein paar gedenkende Worte: ob mit Maria oder ohne.







Reicht Euch die Hände, dann werden Mauern fallen. Der Engel sagte zu ihnen: Fürchtet euch nicht!

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