Mittwoch, 4. Januar 2017

Nordrock (Trutz, Fresenhof)

Abgründe tun sich auf! Abgründe! Interkulturelle Verständigungsprobleme. Madame Poupou kennt Achim Reichel nicht!. Und Knut Kiesewetter kennt sie auch nicht. Nun ist Madame Poupou zwar südbadisch sozialisiert, sollte aber lange genug in Hamburg gelebt haben, um derartige Bildungslücken zu schließen. Aber nein!

Normalerweise hängt unsere Nord-Süd-Differenz ja an solchen Fragen, wie ob das Gerät nun Harke (natürlich) oder Rechen (natürlich nicht) heißt, auf welcher Silbe Büro betont wird, und ob es sich um ein Fahrrad oder um ein Velo handelt. Aber nun: Knut Kiesewetter! Achim Reichel! Unbekannt.

Ich würde nicht sagen: Helden meiner Kindheit. Aber doch beides dauernde Begleiter, die einfach zur selbstverständlichen Matrix des Lebens gehören, so wie der Coop an der Ecke, die Tatsache, dass die Straßenbahn grün ist, oder dass man zur Zeugnisvergabe beim Chinesen essen geht. Alles, ähnlich wie Kiesewetter und Reichen halb in der Vergangenheit versunken.




Aber jetzt tauchten sie wieder auf. Reichel, weil er auf der Silvesterparty gespielt wurde und Madame Poupou das Lied nicht kannte, Kiesewetter, weil auch er noch dem großen Musikersterben 2016 zum Oper fiel.

Kiesewetter starb am 28. Dezember; in Garding, Eiderstedt, neben Dithmarschen. Offizieller Verkünder und Ansprechpartner für die Presse war der ehemalige Wesselburener Gemeindepfarrer, bei dem ich und Madame Poupou auch schon den ein oder anderen Gottesdienst erlebt haben. Pastor "Knippi" Knippenberg hat es so tatsächlich einmal in die FAZ geschafft.

Mir ist Kiesewetter tatsächlich seit frühester Kindheit ein Begriff, Jahrzehnte bevor ich auch nur Pastor Knippenberg oder Wesselburen kannte. Wurde Kiesewetter doch bei meinen Eltern und deren spät-68er-Freunden gespielt. Die damals populäre Mischung aus Gesellschaftskritik und im Folk-Revival einer Art progressiver Heimatverbundenhei. Der Versuch, Heimat und lokale Verbundenheit auch in Deutschland wieder erlebbar zu machen und nicht den Nazidödeln zu überlassen. Klar inspiriert aus den USA:



Ein Mann, eine Gitarre, und wenig drumherum. Die Betonung lag auf dem Text und weniger auf der Musik. Aber es doch sehr früh eigenständig. Die Sprache hatte hier mindestens genauso viel Bedeutung wie der Inhalt der Worte. Insbesondere seine plattdeutsch-friesischen Lieder liefen dann auch quasi ununterbrochen in meiner Kindheit. Lange ging ich davon aus, dass norddeutsche Musik so und nur so klingt.



Besonders aber quasi in Dauerschleife lief der Fresenhof. Ich muss das Lied nur hören und habe sofort Farben, Gerüche, Einrichtung und Aussehen meiner ehemaligen Grundschullehrerin und späteren Freundin meiner Mutter vor Augen. Dieses Lied muss sehr oft gelaufen sein.



Fresenhof wird heute übrigens gern und oft von Schleswig-Holsteinischen Folkrockern Santiano gespielt, bei denen wiederum unter anderem ehemalige Achim-Reichel-Musiker mitmachen - wenn auch erfolgreicher als Reichel oder Kiesewetter je waren.

Nicht ganz so gegenwärtig in der Kindheit war Reichel. Den entdeckte ich erst später. Der kam ja auch nicht aus der Singer-Songwriter-Ecke sondern von den Popmusikern her. War weniger exlizit in dem warum er Musik machte und gehörte soweit ich weiß nie zur Studentenbewegung oder dem was daraus wurde.

Reichel machte Beatmusik als das noch neu und aufregend war. Und entdeckte dann ebenso das (norddeutsche) Volkslied für sich, das er coverte. Geschichten von der See, der Küste und den Stürmen. Leben mit und gegen das Land und das Wasser. Wie sich das für einen Hamburger gehört auch nicht auf Platt, sondern auf Hochdeutsch mit Einschlag.



Alte, bekannte, Lieder und Texte, wieder bekannt gemactht. Da für mich als Kapitänsenkel und Walfänger-Urenkel die See, die Küste, die Sturmflut und der Deich schon immer eine große Rolle gespielt hatten, kamen die Lieder natürlich gut an. Hauptsache Sturm, Hauptsache Wasser und dramatische Geschichten voller Gefahr.

Und Reichel hatte Anfang der 1990er sogar einen ganz veritablen Hit. In diesem Fall sogar selbst geschrieben.



Der ist jetzt nicht ganz so tradionell, greift aber die ganzen Themen des Seemannsliedes auf.

Und das wurde auf ebenjener Silvesterparty gespielt und war meiner Madame komplett unbekannt. Musik, die für mich total selbstverständlich war. Aber ähnlich wie die Ostmusik anscheinend doch geographisch begrenzt. Gab es Gegenden Deutschlands, die Kiesewetter und Reichel nie zur Kenntnis genommen hat. Gibt es eine Kindheit ohne Fresenhof?
 

1 Kommentar:

Anonym hat gesagt…

aalso. erstens sind trams selbstverständlich grün (https://de.wikipedia.org/w/index.php?title=Tram_Basel&redirect=no ). zweitens heißt es tram. und tatsächlich bin ich mit dem plattdeutschen soundtrack von hannes wader aufgewachsen (https://de.wikipedia.org/wiki/Plattdeutsche_Lieder_(Hannes-Wader-Album)), das lief bei meiner mutter rauf und runter. ich hab das aber ungefähr so gehört wie die englischen joan-baez-alben, die sie ebenfalls gehört hat: fremdsprachig. bei https://www.youtube.com/watch?v=cTLuQXhYQDg habe ich zwar fröhlich mitgesungen - aber wie ich jetzt bemerke, weit entfernt von dem echten text...