Montag, 21. März 2016

Randlage

Eine Fahrt durch einen langenTunnel. Weite Felder, Sand, Kräne - eine Baustelle mit Stau. Eine leere Straße durch Industriebauten. Gefühltes Ende der Welt, vage Erinnerungen an nächtliches Verfahren inmitten sachsen-anhaltinischer Chemiekombinate steigen auf. Eine Kurve: eine Hauptstraße, Dönerbuden, afrikanische Imbisse, Jugendliche in Jogginghosen, türkische Lebensmittelgeschäfte, Karstadt, Menschenmengen auf der Straße, Ein-Euro-Shops, Leben pur. Welcome to the wonderful Wedding.

Seit einigen Wochen beschäftige ich mich ja intensiv mit dem WikiWedding, dem Versuch mehr Wedding in die Wikipedia zu bringen. Wenn ich mich dann mal mit Weddingern unterhalte, ist einer der ersten Punkte des Gespräches: „Ach, du kommst gar nicht aus dem Wedding?“ Nun treibt mich ja bei allem was ich in Wikipedia mache, die Wissbegier Neues zu lernen, Unbekanntes zu erkunden und mein inneres Bild der Welt bunter, weiter und vielfältiger zu machen. Aber warum nun ein Ortsteil ohne große, bekannte Attraktionen? Ein Ortsteil bei dem ich knapp eine Stunde rechne, nur um von zu Hause aus überhaupt vor Ort zu sein?

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Es waren für mich diese Autofahrten von den bürgerlich-schicken Teilen Berlins (sei es nun Schöneberg, Wilmersdorf oder Kreuzberg) durch gefühltes ländliches Sachsen-Anhalt hinein in das pralle Leben, die WikiWedding zum Leben erweckten. Der Stadtteil hinter den sieben Bergen, ein wenig ein verwunschenes Traumland,; oft genannt aber weitgehend unbekannt. Der Ortsteil von dem selbst die meisten Berliner kaum mehr wissen als dass es existiert und dass er irgendwie anders ist.

Dabei ist das Traumland Wedding gewöhnungsbedürftig. Die Schießereien und regelrechten Exekutionen, die eine News-Suche nach dem Wedding liefert, sind eher alptraumhaft. Das auffallende Engagement diversester sozialer Initiativen wirkt auf den ersten Blick gut, auf den zweiten Blick fragt man sich, warum die sozialen Initiativen alle hier einen geeigneten Standort sehen. Andererseits: Parks, Grünanlagen, Friedhöfe. Mit der Panke schon fast ein richtiger Fluss. Riesige Wohnanlagen aus der Zeit, als Wohnen die Menschheit noch besser machen sollte: Licht, Sonne, Liebe und Sozialismus.

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Fabrikgebäude aus der Zeit als Fabriken noch nach etwas aussehen sollten und ein Statement abgeben. Eine Straße, deren Händler im Stadtplanerdeutsch „kleinteilig migrantisch und mit wenig Kapital“ benannt werden, was für mich aber vor allem heißt: lebendig, innovativ und mit Herzblut. Berliner Direktheit auf der Straße. Spezialgeschäfte für Darts, Carrerbahnen, Tanzbedarf und Regenschirme; den niedrigen Mieten sei Dank.

Ein riesiger Abenteuerspielplatz und Gänsegehege direkt neben dem Rathaus. Hundert Jahre Architektur gewordene Versuche, die Gegend vor sich selbst zu retten. Schulen alt und neu. Ein großer Schwimmbadkomplex. Kirchen. Ein ganzes Diakonissenstift inmitten der Ein-Euro-Shops. Ein atheistisches Obdachlosenheim aus dem frühen 20. Jahrhundert, heute eine Künstlerkolonie kurz vor dem Einsturz.

Alles hinter dem Ring. Hinter der Spree, der Grenze in Berlin, die den Süden – wo alle wohnen - vom Norden trennt, den niemand kennt. Ein Land der Träume und Alpträume. Halb vergessen durch die Berliner. Mehr ein Name, vielleicht noch ein Symbol, weniger ein echter Stadtteil. Dieses gilt es zu erkunden. Und wer mitmachen möchte: Mittwoch ist das nächste Treffen. Beginn zwischen 19 und 20 Uhr im Nachbarschaftsladen Buttmannstraße 16.

Buttmanstraße 16. In deren wikipedianisch unterwanderten Nachbarschaftsladen wir ein erstes Obdach gefunden haben. Bild:  Denkmalgeschütztes Wohnhaus im Ensemble Badstraße, erbaut 1888-1892 Von: Kvikk
 Lizenz: CC-BY-SA 3.0

Dies ist ein Crossposting mit dem Wikipedia:Kurier, dem internen wikipedianichen Mitteilungsblatt.

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