Freitag, 22. September 2017

Kleinstadt-Antifa, 1994

Lebensverändernde Momente suchen sich unerwartete Orte. Zum Beispiel wird man Antifaschist nahe des Mississippi-Rivers, nicht unweit von Elvis Presleys Anwesen „Graceland“; bei 30 Grad und 90 Prozent Luftfeuchtigkeit, während man eingeklemmt in eine Stuhl-Tisch-Kombination noch kurz vorher einen Werbespot für Mountain Dew gesehen hat.

Hückeswagen - Islandstraße 48 ies
Bild: Hückeswagen - Islandstraße 48 ies 
Von: Frank Vincentz 
Lizenz: Creative Commons Attribution-Share Alike 3.0 Unported

Southaven, Mississippi, 1992

25. August 1992:  Ein Klassenraum einer öffentlichen Schule in Southaven, Mississippi – tief im amerikanischen Bible Belt in einem mäßig wohlhabenden Vorort von Memphis, Tennessee.

Es war die erste Schulstunde. Englisch bei Ms. Thomas. Normalerweise ein gelungener Tagesauftakt. Ms. Thomas war eine Lehrerin wie man sie sich wünscht: Engagiert, um ihre Schüler bekümmert, begeistert von ihrem Fach . Ihr verdanke ich meine Liebe zu Shakespeare auf Englisch. Ihr Kampf, südstaatensozialisierten Amerikanern Renaissance-Englisch zu vermitteln, nötigte mir Bewunderung ab. It ain’t yo easy, whassup.

Eine Eigentümlichkeit der ersten Schulstunde und des amerikanischen Bildungswesens waren die gesponserten Nachrichten. Es lief „Channel One“, eine zehnminütige Fernsehsendung, poppig produziert in MTV-Optik mit diversen Werbeeinspielungen, die versuchte, Teens das Weltgeschehen zu vermitteln. Was soll man sagen: In meiner Gastfamilie, die keine Zeitung hatte, kein Cable TV und sich in ihrer politische Information sich auf die Lokalnachrichten im Network TV beschränkte, war das – Internet war ja noch einige Jahre hin – eine wichtige Informationsquelle.




Channel One am 25. August 1992. Neben Softdrink-Werbung, irgendwas mit Drogen (dagegen!), dem Krieg in Jugoslawien, erschien unerwartet Rostock-Lichtenhagen auf dem Bildschirm. Ich fühlte mich plötzlich sehr deutsch, sehr fassungslos und unendlich weit weg – über 7.000 Kilometer entfernt und noch ein knappes Jahr bevor ich auch nur wieder im Lande war.




Den Rest von 1992 und die erste Hälfte des Jahres 1993 hatte ich andere Sachen im Kopf. Während ich weiter dabei war, eine Welt anzustaunen in der es American-Football, Barbecue, Southern Baptists und Theaterspielen als Unterrichtsfach gab, war ging es in Deutschland weiter: Mordanschlag von Mölln im November 1992, Brandanschlag von Solingen im Mai 1993. Genug um es selbst, fernab aller Nachrichtenkanäle, in den USA mitzubekommen. Zu weit weg um sinnvoll reagieren zu können.

Langenhagen, Niedersachsen, 1994


Meine politische Sozialisation hatte sich bisher darauf beschränkt Zeitung zu lesen. Mit 14 war ich einige Monate Mitglied der Jusos gewesen. Wie Jusos und ich feststellten, war das nichts für mich. Sonst war ich wohl eher kluger intensiver Zeitungsleser, generell liberal, aber auch nicht allzu veränderungsfreudig. Das war vor Rostock-Lichtenhagen.

Aber nun, nach der Rückkehr. Asyldebattenwahnsinn um mich herum. Einstellungen, die ich bisher auf dem Müllhaufen der Geschichte gewähnt hatte, tauchten in „Qualitätszeitungen“ auf. Die FAP, die DVU und andere organisierte Nazis witterten Morgenluft. Sie begannen die ehemalige DDR aufzurollen, wo ihnen wenig entgegengesetzt wurde. Zu sehr beschäftigt waren die Menschen dort mit sich selbst, zu ignorant-siegestrunken die westdeutschen Politiker.

Da kann man doch nicht zusehen! Wer machte was? Antifa! Der "Aufstand der Anständigen" war noch Jahre entfernt - und selbst wenn er da war, wirkte er wie ein Vehikel, um den "Anständigen" ein gutes Gefühl zu geben, denn wie eine gelungene Aktion. Wer in Rostock vor dem Haus stand und überhaupt als einziger versuchte, etwas zu machen, war die Antifa. Wer Solidarität in Solingen organisierte - die Antifa. Wer Wiking-Jugend, FAP und all' die Vorläuferorganisationen von Pegida ernstnahm - die Antifa.

Einige Wochen später wurde ich dann mit Philipp, Stefan, Helge und Christoph Gründungsmitglied unserer Kleinstadt-Antifa. Welcome to the Antifa AK Langenhagen!

Wir trafen uns im Jugendzentrum – ehemals zu wilderen Zeiten ein besetztes Haus. In meiner späteren Kindheit um 1990 war das damals-noch-unabhängige-Jugendzentrum ein leicht unheimlicher Ort. Mutig war, wer ins Café Monopol (es existiert immer noch!) ging, dort den Hinweis las, dass weiße Südafrikaner nicht bedient würden, es sein denn sie distanzierten sich glaubhaft von der Apartheid und dort eine Cola trank. (Gab es dort überhaupt Coca Cola? Vermutlich nicht.)

In den mittleren 1990ern, die Jahre als ich aktuv wurde, war das mittlerweile offiziell städtische Jugendzentrum schon glatt geputzt und frisch gestrichen: Ein ordentliches städtisches Jugendzentrum mit frisch gestrichener Fassade und einem tuffeligen, immer leicht verzweifelt wirkenden, Sozialarbeiter. So sauber und ordentlich war es, dass wir mehrfach kurz davor waren, das damals leerstehende Haus schräg gegenüber auch noch zu besetzen, um ein "richtiges" Jugendzentrum zu haben. Im Haus der Jugend Langenhagen trafen wir uns mit dem Antifa AK Langenhagen. Als gute Gymnasiasten redeten wir vor allem.

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Haus der Jugend, früheres Rathaus in Langenhagen, Niedersachsen, Deutschland von: losch / Losch Lizenz: „Namensnennung – Weitergabe unter gleichen Bedingungen 3.0 Deutschland“


Wir hatten – immer noch Vor-Internet-Zeit – diverse Antifa-Rundbriefe wie das Antifa-Infoblatt abonniert, trugen zusammen was dort drin stand, tauschten aus und redeten oft und lange darüber, selber einmal eine Publikation zu machen. Allerdings bemerkten wir dann auch, dass ein Großteil unserer Infos daraus stammte was in unseren Antifa-Heften stand und ein weiteres Heft mit denselben Infos dem Kampf gegen den Faschismus nur bedingt vorangebracht hätte.

Immerhin: es gab damals ein Heft, das relevante Presseclippings sammelte. Zeitung lasen wir alle, das Heft bekam gut Post von uns. Wer weiß, vielleicht haben wir am Ende sogar noch eine Broschüre fertig gebracht. Die Erinnerung ist verschwommen.

Wir setzten unseren Namen unter diverse Aufrufe, Flugblätter und andere Aktionen und zeigten, dass es immerhin eine Antifa in Langenhagen gab. Wir nutzten das Medium das wir hatten – die Schülerzeitung, in größeren Teilen personenidentisch mit dem Antifa AK - um die Inhalte in den Schulmainstream zu bringen, die wir uns vorher über rechtsextreme Stiftungen, Vereine, Parteien und Personen  - gerade auch in Niedersachsen - angelesen hatten.

Wir machten das, was man mit 18 in der Vorstadt halt macht. Wir hängten uns an die Gerade-eben-Erwachsenen aus der eigentlichen Stadt. Wir besuchten Konzerte und Infoversammlungen im UJZ Kornstraße, tauchten immer mal wieder bei den knuffigen Anarchosyndikalisten auf.  Wir gingen zu Demos.

UJZ Korn
Bild: UJZ-Korn in Hannover-Nordstadt Von: Cars Lizenz: Creative Commons Attribution-Share Alike 3.0 Unported


Besonders in Erinnerung blieb mir die Demo vor dem Abschiebegefängnis Langenhagen. Sie sollte Solidarität ausdrücken. Winter, acht Uhr morgens, Minusgrade und die Menschen im Gefängnis waren  - angesichts der schwarz gekleideten Menschen mit den Fahnen - im besten Falle irritiert, im schlimmsten Falle verängstigt. Immerhin, die Demo scheint eine Tradition zu sein. (Hier ein paar Bilder von 2002, die sich kaum von meinen Erinnerungen unterscheiden) und hier ein Bericht von 2007; gerade die Kommentare erinnern mich sehr an meine Demoerfahrung dort, Ende der 1990er. Anscheinend sollte das Gefängnis 2013 geschlossen werden. Was wohl nicht geschah, 2016 sollte es dann umziehen.

An aktionistischen Tagen ging es zur Demo gen Hermannsburg in die Lüneburger Heide, in dessen Umland die Wiking Jugend Wehrsportlager durchführte.

Wir lasen viel – neben den üblichen Broschüren auch Klassiker, geschichtliches; Memoiren - ich glaube zwischen 1994 und 1996 habe ich mir mehr politische Grundsatzbildung angelesen als während eines kompletten Politikstudiums. Ich geriet in die Fanzine-Szene hinein, andere wurden politischer. Am Ende veranstalteten wir sogar ein Punk-Konzert im Jugendzentrum.

Echte Nazis? Mit denen hatten wir kaum zu tun. Zu der Zeit existierte in der Stadt noch die ein oder andere migrantische Jugendgang. Nazis selbst trugen zu der Zeit auch noch Glatzen und Stiefel, oder auch hier eher nicht - aus gutem Grund. Die - in Niedersachsen durchaus aktiven - Neonazis gingen und gehen mehr ins Land. Insbesondere die Lüneburger Heide war und ist ein beliebter Treffpunkt. Aber damals schlugen sie noch Bögen um Langenhagen.

Öffentliche Nazis in Langenhagen kamen erst später. Jürgen Wirtz, unter anderem im niedersächsischen Landesverband der Republikaner aktiv, war in Langenhagen aktiv. Die "Hilfsgemeinschaft nationaler Gefangener" - ein Freundeskreis inhaftierter militanter Neonazis führte 2001 in der Stadt eine Schulung durch. Um die 2000er kam dann Holger G. und die Kameradschaft '77 - die sind besonders denkwürdig, da sie anscheinend Verbindungen zum NSU hatten, des NSUs erste Verbindung nach Westdeutschland waren. Aber während der NSU seine Kontakte nach Westen erweiterte, ging ich in den Osten.

Im Nachhinein glaube ich, dass wir nach außen hin eindrucksvoller wirkten, als wir es waren. Zumindest das Jugendzentrum in Langenhagen und die Leute dort, waren stolz eine echte Antifa zu haben und politisch aktiv zu sein. Die Szene in Hannover war beruhigt, dass es auch in Langenhagen etwas gibt. Lehrern und andere wurde zumindest bewusst, dass es Antifa gibt und dass diese im Wesentlichen aus normalen Menschen besteht.

Gewalt? Also, bitte, wir waren Gymnasiasten. Die Nazis, die es in Langenhagen gab, waren im Wesentlichen faschistoide Dorfprolls. Selbst wenn wir gewollt hätten, wären wir ihnen körperlich nicht im Geringsten gewachsen gewesen. Die einzige direkte Auseinandersetzung, die es je gab - die Dorfprolls "besuchten" die blöden linken Gymnasiasten auf einer Oberstufenparty - endeten damit dass einer der unseren mit Knochenbrüchen im Krankenhaus lag und die Polizei mich in letzter Minute vor einem ähnlichen Schicksal rettete. Der schlimmste Aktionismus, der aus unseren Kreisen ausging, war das nächtliche Abhängen von NPD-Plakaten.

Die einzige Gewalt mit der wir direkt als Antifa mehr oder weniger zu tun hatten, war gegen uns gerichtet. Und verfehlte uns. Die armen Punks des Jugendzentrums – unser Verhältnis war schwierig: Wir hielten sie für lethargische planlose Biertrinker, sie uns für sesselsitzende  Schnösel – wurden tatsächlich einmal von Nazis verprügelt, weil die Nazis  die Punks  mit der Antifa verwechselten.


Leipzig, Sachsen, 1996


Die Mitgliedschaft im Antifa-Ak-Langenhagen endete 1995 als ich nach Leipzig zog. Nun wohnte ich in Sachsen. Was vorher größtenteils ferne Gefahr geblieben war, war nun gegenwärtiger Alltag. In Leipzig waren Nazis – die Exemplare mit Bomberjacke und Springerstiefeln – keine abstrakte Gefahr für die Demokratie, sondern Leute, denen man regelmäßig in der Straßenbahn begegnete.

Leipzig ab 1990 war umkämpftes Gebiet. Die Straße war offen, junge Männer versuchten das zu nutzen. Gerade in den frühen 1990ern war die Gewalt eskaliert. Als ich nach Leipzig zog, war dies noch allen Beteiligten bewusst, die Befriedung oberflächlich. Als Beispiel: Der Tod von Mike Polley 1990 war noch allen Beteiligten im Gedächtnis.



In Leipzig 1995 ging es darum, dass Menschen mit bunten Haaren oder dunklerem Gesicht wenigstens ohne Gefahr für Leib und Leben in die Innenstadt gehen konnten – in diversen Stadtteilen und Vororten wie Grünau oder Wurzen war das schon damals nicht möglich. Die sächsische Polizei war schon damals nur mäßig interessiert am Thema und genoß nach den Ereignissen der letzten Jahre auch wenig Respekt. Körperliche Sicherheit für diese Menschen bedeutete damals, sich körperlich zu wehren. „Antifa heißt Angriff“.



Die Demos wurden größer. Die Stimmung aggressiver. Manchen Abend überlegte man sich gut in welchem Outfit man wohin laufen konnte. Immerhin, ich bin blond/blauäugig, hatte die Auswahl, konnte mich zivil anziehen und durch Grünau schlendern. Beziehungsweise, als ich sie dann dank grüner Haare nicht mehr konnte, hätte ich sämtlich Go- und No-Go-Gegenden zu jeder Uhrzeit hersagen können.



Ich stellte ziemlich schnell fest: großen Respekt vor den Leuten, die damals körperlich präsent sicher stellten, dass wir halbwegs Orte und Plätze hatten, an denen wir politisch arbeiten konnten, körperliche Auseinandersetzungen sind nicht meins.

Aber nach einugen Jahren bekam ich auch zunehmend Zweifel am Anti-Fa-Programm. Mir erschien es nicht sinnvoll immer nur über Faschismus zu reden. Immer nur "dagegen" ist keine langfristige Vision. Für etwas. Man bringt Menschen nicht von etwas ab, indem man dagegen ist, sondern indem es bessere Alternativen gibt. Langsam ging ich vom AntiFa zur Pro-Selbstbestimmung über.

Damals meine Überzeugung: Faschismus ist kein politisches Programm, sondern eine Lebenshaltung. Verwurzelt in emotionalen und psychischen Grundhaltungen, die mal mehr und mal weniger offen durchbrechen, aber letztlich der politischen Diskussion unzugänglich bleiben. Der Drang alles geordnet, geschlossen und leblos zu haben und die Geschlossenheit mit Gewalt durchzusetzen, ist nichts was sich durch rationale Argumentation ändern lässt.

Antifa-Arbeit, die erfolgreich bleiben will, muss tiefer ansetzen, früher – in der Kultur, im Lebensstil im Alltag der Leute – da wo es darauf ankommt, Leute von ihrer militanten Abschottung gegenüber allem abzubringen. Und so landete ich dann bei Kultur und Wissensressourcen im Internet.


Berlin, Berlin, 2017

Nur holt es mich immer mal wieder ein. Sei es, dass ich 2000 einem harmlosen Onlineforum beitrete, dass dann Nazis übernehmen wollen. Sei es, dass 2017 der öffentliche Diskurs sich mittlerweile so anhört wie dieses nazifizierte Forum sich damals nachts um drei.

20 Jahre später. Surfen im Internet. The Economist erklärt „the Antifa“. Nicht die deutsche Antifa, diejenige in den USA. Antifa auf den Straßen, im Land, wo die Nazis ihre Zeit gekommen sehen. Dort, wo ich vor 20 Jahren in den allertiefsten Südstaaten zwar einen fröhlich-ungehemmten Rassismus erlebte, aber selbst den Rednecks damals klar war, dass der Rassismus nichts für öffentliche Verlautbarungen war. Leute, die sich direkt auf Nazis bezogen wären selbst in Mississippi für Meshugge gehalten worden.

20 Jahre später. Nicht im Süden, im Nordosten, in Kalifornien, im Mittleren Westen der USA: Die Alt-Right, Neonazis mit Hipsterbärtchen sehen sich kurz vor der Machtergreifung und in Deutschland freut sich die AFD an Trump.

Die AFD steht kurz davor, die erfolgreichste von Nazis gemochte Partei zu werden, die je in den Bundestag einzieht und die Nazis selbst wissen das zu Feiern. Nun tragen die AFDler selbst keine Bomberjacken mehr, aber treffen sich fröhlich mit Pegida. Und wer begleitet Pegida von Anfang an? Genau, dieselben Leipziger und Dresdner Hooligans, die ich noch aus dem Leipzig der 1990er kenne. Zum Teil sind es sogar noch dieselben Personen.
 
Hass ist wieder okay, Aggro ein bewundernswerter Zustand und offensiver Egoismus, der im Zweifel über Leichen geht, erstrebenswert.

Politikkonzepte aus der Gruselkiste des späten 19. Jahrhunderts stehen auf Wahlplakaten. Hilft da die Antifa? Direkt dagegen? Körperliche Gewalt kann ich mit 40 nicht besser als mit 18. Selbst wenn ich von der Notwendigkeit überzeugt wäre, wäre das kein Weg. Aber trotzdem: direkt dagegen? Antifa-AFD. Gut für's Gewissen, aber keine Langfristlösung.

Faschismus ist eine Lebenshaltung. Erfolgreiches Wirken dagegen nur langfristig möglich. Wir ernten jetzt die Saat, die gesellschaftlich-kulturell seit den 1990ern gesäht wurde. Aber was hilft langfristig in der aktuellen Situation? Kurzfristig ineffektiv verbrennen? Langfristig das Gefühl haben nichts zu tun und sich vielleicht zu verrechnen.

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