Freitag, 6. August 2010

Wild West um Wundermittel: Patentmedizin und Open-Source-Forschung

Joseph M. Gabriel: A thing patented is a thing divulged: Francis E. Stewart, George S. Davis, and the legitimization of intellectual property rights in pharmaceutical manufacturing, 1879-1911,J Hist Med Allied Sci. 2009 Apr;64(2):135-72

Die Debatte zum Thema Medizinpatente, Generika, Patente auf Leben und so fort tobt und tobt. Da ja grad das Wochenende kommt, ist das eine gute Gelegenheit einen Schritt zurückzutreten, und sich zu vergegenwärtigen, dass das mit den Medizinpatenten mal ganz anders war.

Gabriel schildert in seinem lesenswerten Artikel, wie sich pharmazeutische Industrie und wissenschaftliche Medizin Ende des 19. Jahrhunderts in den USA aufeinander zubewegten. Sein Vehikel dazu ist die Geschichte von Francis E. Stewart, der erst Anhänger einer patentfreien Medizin ist, dann für Medizinpatente kämpft und schließlich von der Bewegung überrollt wird.

Hintergrund ist die medizinische Landschaft in den USA im 19. Jahrhundert, in der es eine strenge Trennung zwischen kommerziellen Medizinherstellern und Ärzten mit wissenschaftlichem Anspruch gab. Obwohl es zu der Zeit gesetzlich problemlos möglich war, Heilmittel patentieren zu lassen, bestand innerhalb der etablierten Ärzteschaft starke Ablehnung gegenüber diesem Ansatz. Die American Medical Association verbot es in ihren ersten Ethikleitsätzen explizit, Patente oder Trademarks zu schaffen oder andererseits zu versuchen, kommerziell von der Produktion eines Mittels zu profitieren.

Modell der Ärzte waren offene Rezepte, die in langen Versuchsreihen verschiedener Ärzte untersucht werden, und nach diversen Jahren intensiver Durchleuchtung in den medizinischen Standard aufgenommen werden, wo sie dann jeder leicht reproduzieren konnte. (Und ja, natürlich waberte beim Lesen der Abschnitte die ganze Zeit ein "Open Source" in meinem Hinterkopf) Solche Medikamente wurden von einer kleinen Zahl "ethischer Firmen" hergestellt, die sich an die Bedingungen der AMA hielten.



Auf der anderen Seite standen die Hersteller von Formelmedizin, die untereinander in starkem Wettkampf standen. Diese nutzten neben Patenten und Trademarks vor allem intensive Geheimhaltung um Inhaltsstoffe und Zubereitung sowie aggressive Werbung mit teils stark übertriebenen Heilungsversprechen als Mittel der Auseinandersetzung. Die Mittel waren sehr beliebt, die Hersteller von solchen "Snake Oil" oder "Patent Medicine" genannten Mittel aber galten in der Medizinerschaft als Quacksalber und schlimmeres.

Gabriel nun schildert, den Umbruch, der um 1900 stattfand. Die Firma von Davis und Stewart beginnt als "ethische Firma", die aber aufgrund des Wettbewerbsmodells keine großen Gewinnspannen aufweist und deswegen auch weder selbst das Geld hat, noch Investoren requirieren kann, um größere Investitionen in die Forschung zu unternehmen. Er schildert wie Davis verschiedene Wege versucht, mit der kreativen Auslegung des Ethikcodes einerseits mehr Geld zu verdienen, andererseits nicht der sozialen Ächtung als Quacksalber anheimzufallen. Und schließlich schildert er, wie sich Stewarts und Davis Wege trennen, nachdem sie sich endgültig für patentierte Medizin entschloßen haben.

Während Stewart den offenen, wettbewerbsfördernden Teil des Patentrechts betont, geht Davis im Laufe der Zeit immer restriktivere Wege. Stewart sieht Prozesspatente als unumgänglich, um große Investitionen zu ermöglichen. Er ist aber gegen Stoffpatente, da diese die Suche nach effektiveren Wegen zur Herstellung eines Stoffs verunmöglichen. Auch ist er gegen Markennamen für Medikamente, da diese anders als Patente bis in alle Ewigkeiten liefen und de facto eine Monopolsituation auf bestimmte Wirkstoffe schaffen könnten.

Davis baut Parke-Davis zum größten Medizinhersteller seiner Zeit auf und setzt mit seinem Prozessgewinn in Parke-Davis v. Mulford sogar einen bis heute wirkenden Präzedenzfall, der in den USA das patentieren von natürlich vorkommenden Stoffen erlaubt und bspw. auch bei der Rolle um die Patentierbarkeit von Genen eine Rolle spielt.

Trotz seines großen erkenntsnisfördernden Werts, hat der Gabriel-Text aber auch ein paar Schwächen.

- Vor allem löst Gabriel seinen eigenen Anspruch nicht ein, zu erklären wie Stewart für die allgemeine Akzeptanz des Patentwesens in der Medizin kämpfte. Nach dem was er erklärt, setzte sich das Patentwesen eher aufgrund anderer Umstände durch und Davis kämpfte vergeblich gegen Markennamen auf Wirkstoffe und Stoffpatente.

- Überhaupt referiert er zwar große Stoffmengen, umgeht aber mehrmals recht geschickt die Frage "wie" es denn nun passierte, dass sich eine Haltung durchsetzte. Die allgemeinen Entwicklungen bleiben eher allgemein, der Teil um Davis und Stewart wird desöfteren von seinem Detailreichtum erschlagen.

- Eher am Rande kommt die deutsche Medizinindustrie vor, die zu der Zeit schon industriell organisiert war, keinerlei Hemmungen hatte alle Möglichkeiten des Immaterialgüterrechts in Anspruch zu nehmen und trotzdem oder deswegen wissenschaftlich an vorderster Stelle der Entwicklung stand und drohte den US-Markt aufzurollen. Die kurzen Andeutungen, die Gabriel macht lassen in mir den Verdacht aufkommen, dass die Bedrohung eine wichtigere Rolle spielte, als der Text darstellt.

- Der Text ist zwar nicht aus dem deutschen Wissenschaftsbetrieb hervorgegangen und hat auch einen eher Inhalt, der sich für eine Erzählung anbietet. Dennoch ist es halt ein wissenschaftlicher Text, mit der darin innewohnenden Neigung zur Drögheit.

- Und vor allem scheint er wirklich nicht frei zu sein. Ein Project-MUSE-Zugang ist zwar meiner Erfahrung nach nicht so wahnsinnig schwer aufzutreiben, eine Stabi-Berlin-Mitgliedschaft ist da zum Beispiel eine Möglichkeit. Aber haben muss man ihn trotzdem erstmal.

Wer ihn aber hat, kann froh sein :-)

2 Kommentare:

HaeB hat gesagt…

Das Thema wird auch in dem sehr spannenden Buch von Adrian Johns behandelt ("Piracy: The Intellectual Property Wars from Gutenberg to Gates", Kapitel "Pharmaceutical Piracy and the Origins of Medical Patenting"), allerdings in Bezug auf England und das 18. Jahrhundert.

http://books.google.com/books?id=jFMEPUO7LS0C&lpg=PP1&hl=de&pg=PA83#v=onepage&q=pharmaceutical&f=false

dirk franke hat gesagt…

Danke für den Tipp, der in dem Fall tatsächlich viel hilft. Das Piracy-Buch liegt zwar schon seit zwei Wochen auf dem Nachttisch. Da ich aber in derselben Zeit immer wie ein Stein ins Bett gefallen bin, hat es nicht mal bis zum Inhaltsverzeichnis gereicht. Wird sofort nachgeholt..