Dienstag, 17. Dezember 2019

Lesebericht: Carmen Rohrbach „Solange ich atme“.

Suchscheinwerfer beleuchten Wasser und Himmel über der Lübecker Bucht. Die nächtliche Lightshow beginnt. Die Lichtkegel wandern ruhelos doch regelmäßig durch die Nacht. Wir stehen am Strand von Grömitz. Im Urlaub an der Ostseeküste Schleswig-Holsteins. Die Scheinwerfer ziehen etwa 15 Kilometer Luftlinie am anderen Ufer der Lübecker Bucht ihre Kreise.

Für mich bieten die Lichtkegel eine Lightshow. Ich, mit einem spätabendlichen Waffeleis in der Hand, das Gefühl von Sand, dem Beginn eines Sonnenbrands und Meerwasser auf der Haut, genieße Abend und Unterhaltung. Im Klützer Winkel, Bezirk Rostock, an der DDR-Seite der Bucht, bedeuteten die Scheinwerfer militärisches Sperrgebiet, Schusswaffengebrauch und Lebensgefahr.

Cover des Buchs "Solange ich atme von Carmen Rohrbach". Prägendes Bild: ein Proträt der Schriftstellerin zum Zeitpiunkt der Buchveröffentlichung mit verwehtem Haar, breitem Lächeln und Outdoor-Klamotten irgendwo im Freien.
Carmen Rohrbach: „Solange ich atme“ National Geographic, 12,99€


Es waren viele Ostseeurlaube. Grömitz. hf leipzig fuhr jeden Sommer an den Ort an der schleswig-holsteinischen Ostseeküste. Gelegen an der Westküste der Lübecker Bucht erlaubte die Promenade Grömitz den Blick auf die eigentliche Ostseeküste – den Osten. hf leipzig wollte nicht in den Klützer Winkel, sondern nach Rügen und Usedom. Dorthin versperrte ihm die Grenze den Weg. Als einer, der vor dem Mauerbau aus der DDR abgehauen war, wollte er auf keinen Fall diese Grenze überschreiten. hf Leipzig ging keinen Fußbreit in „die Ostzone“ solange die Stalinisten dort an der Macht waren.

So fuhren wir jedes Jahr an die Ostsee. Die Gefühle, die die suchenden Lichtkegel in ihm auslöste, kann ich nur erahnen. Ich bewunderte die Lightshow. Mir blieben, die Promenade, der Strand, Eis mit frischen Erdbeeren und das „Spieltrumcentrum“ (Kinderspielcenter Cap Horn)  - seit 2017 stillgelegt, ein kleines Zentrum mit einigen Arcadespielen und elekrischen Kinderautos in Erinnerung.

Wenig hätte ich geahnt, welche Dramen sich auf dieser Ostsee abspielen. Von diesen Dramen erzählt Carmen Rohrbach in „Solange ich atme.“ (Affiliate Link*)  Sie schwamm 28 Stunden weitgehend orientierungslos über das Meer. Mehrfach kurz davor unterkühlt und übermüdet das Schwimmen einzustellen und freiwillig zu ertrinken. Vom fast-rettenden Westschiff beinah überfahren.

Sie, keine Leistungs- oder Sportschwimmerin, war 28 Stunden auf der offenen See. Und Rohrbach erzählt davon im Buch „Solange ich atme“ in einem Tonfall als hätte sie einen längeren Spaziergang im Harz hinter sich gebracht.


Solange ich atme



Das Buch gliedert sich in drei Erzählstränge. Im ersten längeren Teil des Buchs stellt Rohrbach dar, warum sie in der Ostsee landete. Sie beschreibt ihr Aufwachsen in der frühen DDR, ihre kindliche Begeisterung für den Staat und die zunehmende Entfremdung.

Eingerahmt wird dies durch eine präzise Schilderung der eigentlichen Flucht. Die nächtliche Fahrt mit dem Auto an die Ostsee. Die Vorbereitungen dort. Ihr Fluchtpartner und den eigentlichen Ablauf der Flucht – die am Anfang fast an der Entdeckung durch die Küstenwache gescheitert wäre. Sie retteten sich vor der Entdeckung, indem sie das Schlauchboot mit Wasser, Kompass und allen anderen Vorräten, versenkten.

Im dritten Teil vereinigen sich beide Handlungsstränge. Rohrbach schildert die Haft im Stasiknast und die darauf folgende allgemeinen Haft für Republikflüchtlinge. Wie sie von den Häftlingsfreikäufen durch die Bundesrepublik erfährt und nach zwei Jahren freigekauft wird.


Kindlicher Glaube und Entfremdung


Rohrbach schildert, wie sie 1948 in der Lausitz geboren wurde und aufwuchs. Ihr Vater war durch die Weimarer Republik und die NS-Zeit zum überzeugten Kommunisten geworden. Nach Rohrbach „kein fanatischer Parteifunktionär, sondern ein Idealist, der sich von Herzen wünschte, der Kommunismus möge den Menschen das Paradies auf Erden bringen.“ Ein Vater, der die Fehler der DDR durchaus sah, aber ebenso fest überzeugt davon war, dass der Staat auf dem richtigen Weg war. Das Ziel der DDR das richtige Ziel war.

Sie selbst ließ sich davon anstecken, schildert, dass sie in ihrer Kindheit oft das Gefühl hatte, ihr Vater und sie seien die einzigen echten Anhänger der DDR.

Das für Diktaturen typische Doppelsprech erreichte Höhen der Absurdität. War es öffentlich absolut notwendig, die DDR zu loben, war es sozial ebenso Norm, den Staat untergründig schlecht zu machen und zu meckern – sie beugte sich dem Gruppendruck, schimpfte oder lästerte über den Staat, obwohl sie doch eigentlich so fest an ihn glaubte.


Die Suche nach der Welt


Rohrbach erzählt von ihrem Aufwachsen, das einige Jahre in Freyburg auf einem weiten verwilderten Parkgrundstück stattfand. Dort verbrachte sie früh Stunden damit, auf eigene Faust durch das Gelände zu streifen. Bücher und Radiosendungen, weckten in ihr die Sehnsucht nach Amazonas und Himalaya, Wüste und Dschungel.

Ein Wachturm auf Land. Davor zwei Fischerboote(?), die verlassen auf dem Wasser dümpeln.
Bild. Grenzanlagen Lübecker Bucht Bundesarchiv, Bild 146-2005-0148 / CC-BY-SA 3.0


Sie ging zum Biologie-Studium nach Greifswald, wo sie in neue Kreise geriet. Menschen, die über den Staat nicht nur grummelten und ihn in Nebenbemerkungen verächtlich machten, sondern sich vergleichsweise offen gegen ihn stellten und einen Alternativentwurf lebten. Hier erfuhr sie das erste Mal von Unrecht und Gewalt, die es in der DDR gab.

Das Studium selbst war noch sehr traditionell; mit vielen Exkursionen, dem Beobachten von Vögeln und anderen Tieren. Das notieren der Lebensweise der Tiere und das Auffinden und Bestimmen von Pflanzen war eine Haupttätigkeit der Studenten.


Bruch und Entschluss zur Flucht


Dann ging sie nach Leipzig. Hier nun bahnte sich der endgültige innere Bruch mit dem System an. Leipzig gab sich systemtreu. Ihr Vater hatte aus innerer Überzeugung die DDR für den besseren Staat gehalten. Er sah aber auch ihre Fehler und sprach sie aus. In Leipzig erlebte Rohrbach das Gegenteil: nach Außen getragene Orthodoxie, das Verleugnen jeglicher Probleme, Ausschluss jeder öffentlich geäußerten abweichenden Meinung. Vorgetragen von Menschen, die privat eine Verachtung für das System äußerten. Diejenigen, die sich als treuesten der Treuen aufspielten, hatten keine Überzeugung und keine Motivation außer dem blanken Opportunismus.

Zwei bewaffnete Soldaten in Uniform laufen den Sandstrand auf Rügen.
Bild. DDR-Grenzsoldaten am Rügener Strand. Bild: Bundesarchiv, Bild 183-42998-0003 / CC-BY-SA 3.0


Das Studium in Leipzig findet nicht mehr in der Natur statt, sondern folgt dem „modernen wissenschaftlichen Sozialismus“ mit allem Charme, den diese Worte hervorrufen. Bestenfalls im Labor, meist in stundenlangen theoretischen Erörterungen. Eine junge Frau, die die Liebe zur natürlichen Landschaft, die Faszination an Tieren, Pflanzen und Landschaft zum Studium brachte, sitzt in Kellerräumen mit Neonlampen und schlechter Luft und muss in verquaster Sprache Theorie diskutieren. 

Endgültig erfolgt der innere Bruch, als Rohrbach für ihre Abschlussarbeit aufgefordert wird, Tauben umzubringen, um im gerade noch lebenden Tier, Messungen vorzunehmen.

Der Entschluss zur Flucht fällt einige Jahre später. Rohrbach, die sich damit abgefunden hatte als DDR-Bürgerin niemals den Amazonas oder den Himalaya zu sehen, hatte wenigstens auf eine Expedition in die Mongolei oder nach Cuba gehofft – ihr wird allerdings bedeutet, dass sie mehr Linientreue beweisen muss, als sie zeigt.


Die Flucht


Zusammen mit ihrem damaligen Tauchlehrer entsteht spontan mit wenigen Wochen Vorlauf der Plan zur Flucht. Sie wollen mit Neoprenanzügen und Taucherflossen schwimmend ein Schlauchboot mit Vorräten, Kompass und Karte auf das Meer hinaus schieben. Sobald Sie die DDR-Hoheitsgewässer verlassen haben wollen sie auf das Schlauchboot klettern. Absichtlich starten sie in Nienhagen bei Rostock, weit östlich der Lübecker Bucht. Dort ist die Küste nicht so eng bewacht. Die Suchscheinwerfer wie beispielsweise in der Lübecker Bucht, fehlen. Die Fluchtrichtung ist Norden (Dänemark) nicht Westen (Bundesrepublik).

Blick aus einem Ruderboot auf die Ostsee. Die Ruder sind zu erkennen, leichte Wellenbewegung über den Wasser, die Sonne am Horizont.
Boot auf der Lübecker Bucht (1961): Bild: Mit dem Ruderboot auf Wanderfahrt über die Lübecker Bucht von: Holger.Ellgaard Lizenz: Creative Commons Attribution 3.0 Unported


Dennoch: Bereits nach kurzer Zeit gerät ihr Schlauchboot in den Suchscheinwerfer eines Wachboots. Sie versenken das Boot mit einem schnellen Messerstich und tauchen. Die DDR-Küstenwache dreht ab. Sie sind weiter frei, nun aber ohne Karte und Kompass, ohne Schwimmhilfe und ohne Vorräte. Angewiesen darauf sich am Sonnenstand zu orientieren, in Panik davon durch Strömungen fernab der Schifffahrtswege getrieben zu werden – denn sie wissen, dass sie allein schwimmend niemals die dänische Küste erreichen werden. 28 Stunden Odyssee auf dem freien Meer. Im Wasser durstend, durch ein kleines Loch im Neoprenanzug auskühlend und mehr, als einmal davor vor Erschöpfung fast einzuschlafen. Sie sehen ein westdeutsches Schiff, dass sie allerdings nicht sieht, sondern fast überfährt. Sie retten sich mit letzter Kraft auf eine Boje, die die Fahrrinne markiert.


Haft und Freikauf


Dort entdeckte eine Yacht unter polnischer Flagge die beiden auf der Flucht. Wenig später tauchte ein Wachboot der Volksmarine der DDR auf, dass die beiden Inhaftierte. Rohrbach schildert den Prozess und ihre Eltern – denen sie sicher zahllose Probleme bereitet hatte und bei denen sie insbesondere das Gefühl hatte mit ihrem Fluchtversuch die Ideale ihres Vaters verraten zu haben. Diese aber unterstützten sie, soweit die DDR es zuließ. Sie schildert die Zeit im Stasi-Knast, den regulären Knast und die absurden Wochen als sie aus Versehen in der Anstalt für kriminelle Frauen landete, die sich rehabilitieren wollten und sollten – ungeahnte Freiheiten genossen aber dafür im wortwörtlchen Sinne direkt vor und hinter den Wachoffizieren aufwischten.

Schließlich erfuhr sie davon, dass es Häftlingsfreikaufsprogramme zwischen der Bundesrepublik und der DDR gab. Diese hatte die DDR zu einem einträglichen Menschenhandel entwickelt, war soweit gekommen, unerwünschte Menschen absichtlich zur Flucht zu animieren, um sie dann verhaften und
später verkaufen zu können – und doch war es Rohrbachs große Chance in den Westen zu kommen.


Das Buch


Rohrbach promovierte in der Bundesrepublik über Wüstenrennmäuse. Sie entschied sich kurz danach die Welt zu erkunden und freie Reiseschriftstellerin zu werden. Sie veröffentlichte zahlreiche Bücher, kam aber nie auf die Idee über diese vielleicht größte und abenteuerlichste Geschichte ihres Lebens zu schreiben. Erst ihr Verleger, dem sie diese Geschichte in privater Runde erzählte, meinte, dass dies doch auch ein gutes Buch wäre.

Erzählerisch zeigt sich der Profi. Das Buch ist flüssig geschrieben und gut zu lesen. Trotz persönlicher Involviertheit, obwohl sie allen Grund hätte, nach dieser Geschichte in Superlativen zu schwelgen, bleibt Rohrbach im Tonfall durchgehend unprätentiös. Ihr gelingt eine sehr differenzierte Darstellung der DDR mit den Menschen, die dort wohnten, von den Idealisten über die Gruppe derjenigen, die ihre Alternativkultur lebten hin zu den besonders linientreuen Opportunisten und dem menschenverachtenden Machtapparat, der alles zusammenhielt.

Eine große Flucht. Eine große Geschichte. Ein großes Buch.

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Das Buch selber erschien in zahlreichen Ausgaben. Solange ihr bei einer ordentlichen Buchhandlung kauft, ist es egal,wo es herkommt. Ich verlinke jetzt die Seite bei Carmen Rohrbach selber.

Alle Iberty-Buch-Posts verzeichnet die Buch-Übersicht.

*Affiliate Link - auch Werbung genannt. Wenn ihr über diesen Link bestellt, zahlt ihr nicht mehr. Aber ich bekomme und eine kleine Provision. Außerdem ist es mir gelungen, eine Bestellung weg von amazon zu lotsen.


 

2 Kommentare:

Liesel hat gesagt…

Rohrbachs Buch von ihrer Pilgerschaft auf dem Jakobsweg hat mich selbst dazu gebracht nach Santiago zu laufen.

dirk franke hat gesagt…

Spannend! Dann sollte das wohl auch auf die Leseliste. Immerhin kann ich sagen: ich bin auch nach Lektüre nicht motiviert quer über die Ostsee zu schwimmen ;-)