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Sonntag, 27. Dezember 2020

Die 100 berühmtesten Rezepte der Welt. Ein Kochprojekt.

Ein elaborierter Tanz spielte sich zwischen den Bäumen ab. Der dürre Mann im weißen Mantel legte ein Paket auf die Bank, trat drei Schritte zurück. Ich legte ein andere Paket auf die Bank daneben. Wir beide liefen im Uhrzeigersinn um die Bänke herum, nahmen die Pakete auf. 

Weihnachtsplätzchenübergabe zu Zeiten von SARS-CoV2. Merlino und ich hatte uns am üblichen Ort verabredet: im Miniaturpark zwischen dem Stadtbad Schöneberg und der Hauptstraße. Er liegt bequem zwischen den Schöneberger Supermärkten und Märkten. Der kleine Park, der vielleicht auch nur ein großer Vorgarten ist, bietet selbst zu Zeiten, in denen das Bad geöffnet ist, Platz. 

In den zahlreichen Monaten im Jahr, in denen das Stadtbad aus dem einen oder anderen Grund geschlossen ist, sind wir quasi allein. Nun trafen wir uns: Ich mit Madames Weihnachtsplätzchen, einer Mischung aus Spekulatius, Terrassenplätzchen und Zimtsternen, Merlino mit dem extra für uns gebackenen Pampepato, einer Art italienischer Weihnachtsbrot mit  Bitterschokolade.

Merlino heißt naturlich nicht Merlino. Aber er trägt gerne lange weiße Mäntel und sagt von sich, er sei ein "Mago in cucina.", ein Zauberer in der Küche.  Freunde dürfen ihn auch "Mago Merlino" nennen. Zuerst tanzten wir wortlos. Worte austauschen können wir ja über Social Media, Messenger und ähnliches. Aber uns sehen, Backwerk austauschen, können wir nicht. 

Ich hatte noch eine Frage: "Merlino, weißt Du wo ich einen guten Kalbskopf her bekomme?" - "Naturalmente!" - wie konnte ich nur Zweifel an seiner Kompetenz andeuten. "Ma perché? Aber warum? Was willst Du mit einem Kalbskopf?" - Ich antwortete, er wird ein Teil meines Jahresprojekts 2021: "Die 100 berühmtesten Rezepte der Welt."

Roland Gööck: die 100 berühmtesten rezepte der welt, edition sigloch.

Mago Merlino schaute ratlos. Ich erläuterte: 

Ich wollte nächstes Jahr mal wieder ein Kochbuch durchkochen. Der Ansatz zwingt mich dazu, auch die seltsameren Sachen zu probieren, diejenigen Rezepte zu kochen, bei denen ich mich weniger wohl fühle. Es nötigt mich Gerichte auszuprobieren, bei denen ich vorher keinen Plan habe, wie das Rezept funktioniert. Ich stand also zu Hause vor den Regalfächern mit den Kochbüchern, überlegte, was in mir Joy sparkt, und da sprang es mich an. "Die 100 berühmtesten Rezepte der Welt." 

Das Buch habe ich vom Kaptain mitgehen lassen. Es erschien 1971. Einst hat es hf leipzig als Werbegeschenk für die Blitz-Blank-Kunden bestellt. Ein Exemplar landete auch in unserer Wohnung. 

Dieses rote Kunstleder mit dem goldgeprägten Lettern hat mich schon als Kind fasziniert. Die Rezepte aus aller Welt, exotisch klingende Gerichte, ferne Länder. Das war mindestens so gut wie Medaillenverleihungen bei Olympischen Spielen: Die Welt war so viel größer als Langenhagen bei Hannover. Ich weiß nicht, ob mich die Rezepte reizten, oder ob sie nur fremde Orte und exotische Genüsse verhießen. Oft blätterte ich dieses Buch durch.

"Incridebile!", erzähl mehr! Ich fahre gerne fort:
 

Past'aciutta (Trockene Pasta) - nur eines von 100 rezepten.
 

Das Buch erschien bei der "Edition Sigloch". Sigloch war eigentlich eine industrielle Buchbinderei aus dem Schwäbischen Künzelsau. Gegründet 1883, ihre Spezialität war immer eher die Gestaltung des Buchs als ihr Inhalt. Irgendwann fing Sigloch an, auch ganze Bücher zu produzieren und nicht nur anderer Leute Bücher zu binden. Das waren natürlich Prachtbände, opulent in rotem Kunstleder gebunden, mit Prägeschrift und aufwendigen Bildstrecken. 

Gerne veröffentlichten sie Reiseführer oder Kochbücher. Beststeller der Edition waren die "Kulinarische Streifzüge durch Schwaben". Aber im Laufe der Jahrzehnte erschienen mehrere hundert Bücher, vor allem zu Regionen und Regionalküchen. Eine Art best of als "Die 100 berühmtesten Rezepte der Welt" geschrieben von Roland Gööck war folgerichtig.


"Roland Gööck - der Vater von Harald Glööckler?"
 

Ne, der Glööckler hatte in der Geburtsurkunde nur ein Ö. Der Gööck hatte auf seiner Geburtsurkunde schon zwei. Ein Vorfahr hatte das baltische Jöök eingedeutscht. Gööck war zu seiner Zeit aber ähnlich bekannt wie Glööckler in den 2000ern. Roland Gööck war ein rasender Reporter des deutschen Sachbuchwesens. 

Er hat einen faszinierenden Wikipedia-Artikel - mit tollem Foto! - war Sachbuchredakteur bei Bertelsmann und hat in seinem Leben mehrere hundert Bücher veröffentlicht. Vor allem über Essen und Sport. Viele Olympiabildbände und Fußball-WM-Bücher stammen von Gööck. Bekannt war er, weil er schon den 1970ern die Bücher zum Sportevent nur vier Tage nach Ende des Events herausbrachte. Und, den 100 berühmten Rezepten nach zu urteilen, war er Genussmensch.

"Ich verstehe. Und ich verstehe warum du das Buch magst. Wahrscheinlich weil es so aufgezogen war wie damals die WM- und Olympiabücher. War ja derselbe Autor."
 

Ich staunte. Vielleicht hatte Merlino recht. Vielleicht war es dieses Kochbuch gewordene Olympiabuch, das meine Neugier damals geweckt hatte. Waren Sportübertragungen im Fernsehen doch damals ein wichtiger Anlass, meinen Drang zur weiten Welt auszuleben. Es war einer der wenigen Anlässe, dass auch die geheimnisvollen Länder hinter dem eigenen Vorhang auftauchten und normale Länder waren.

Aber es war nicht nur ich, der fasziniert war. Anscheinend waren die 100 berühmtesten Rezepte ein Verlagserfolg. Wenige Jahre später folgten "100 raffinierte Rezepte aus der ganzen Welt." Die Edition Sigloch veröffentlichte in den Jahren darauf noch "135 Vollwert-Rezepte aus aller Welt", "Tee - mit 50 berühmten Rezepten aus aller Welt.", "Salate - mit 75 pikanten Rezepten aus aller Welt" oder "250 berühmte Rezepte aus Deutschland."

"100 raffinierte gerichte aus aller welt", Nachfolger der 100 berühmten Rezepte.

 

Merlino verstand meine Faszination. "Aber Du willst dich auf ein Jahr deutsche Küche des Wirtschaftswunders einlassen? Ausgerechnet? Was gibt es: Fleisch mit Fleisch und Dosengemüse?". 

Ich widersprach, blätterte durch: "Clam Chowder (USA)", "Eszterházy-Rostbraten (Ungarn)", "Past'asciuatta (Italien)", "Zuppa Pavese (Italien)", "Duveč (Jugoslawien)", "Borschtsch (Sowjetunion)", "Imam bayildi (Türkei)". Und schau, beim Imam sind Auberginen, Tomaten und Knoblauch in der Liste der Zutaten. Ich wusste nicht mal, dass es die in Deutschland 1971 überhaupt frisch gab. 

Fondue Neuchâteloise und Forelle mit Mandeln aus "die 100 berühmtesten rezepte der welt."
 

Aber Gööck ging davon aus. Die Zutaten werden nicht weiter erläutert. Aber bevor ich mich an Schaschlik, Imam und Kebap mache, bleibe ich einheimisch. Zu Weihnachten wird bei uns "Fondue Neuchâteloise (Schweiz)" gekocht werden, vielleicht auch noch ergänzt um "Crêpes Suzette (Frankreich)". Besonders gespannt bin ich auf die "Mochturtle-Suppe (England)". Für die falsche Schildkrötensuppe brauche ich den Kalbskopf."


 

Mockturtle-Suppe. Aus "die 100 berühmtesten rezepte der welt."

Ich wedelte mit dem Buch vor Merlino. Als er schauen wollte, legte ich es auf die Bank.

Er blätterte: "Dosenchampignons? Ein Verbrechen an der Küche! Mamma Mia! Verbrennen dieses Buch!". 

Ich wand ein: Halt stopp. Schaue mal: Nur die Dosenchampignons sind aus der Dose. Alles andere ist frisch. Okay, außer der Schildkröte für die Schildkrötensuppe - aber das Rezepte werde ich eh ignorieren. Anscheinend war es zur Zeit des Buches einfacher, frische Auberginen und Artischocken in Deutschland zu bekommen, als Champignons.

"Wahrhaftig! Warum?"

"Ich forsche noch. Und ich werde es herausbekommen." Aber der Plan ist es nicht, die Rezepte wortwörtlich zu befolgen. Dafür hat sich in den letzten 50 Jahren zuviel getan. In den Küchen und erst recht in den Supermärkten. Die Kühllogistik wurde eine ganz andere. Es stehen andere Sachen zur Verfügung. Frischwaren sind einfacher zu bekommen. Die Menschheit isst an sich weniger Reis und weniger Fleisch. Das werde ich berücksichtigen. Ich will ja nicht nur kochen, sondern die Sachen danach aus Essen. Aber es wird eine spannende Zeitreise werden.

Merlino erwartet Bericht.

Wir werden uns im Stadtbadpark wieder treffen. Ich werde berichten.  

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