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Mittwoch, 16. November 2016

Dol2morrow



2016. Eine Jahreszahl als politische Lagebeschreibung. Es ist seltsam. Fast noch seltsamer  kommt es mir vor, dass es mir alles so bekannt wirkt. Fast scheint es mir wie eine Wiederholung des Jahres 2000. Damals als Farce in einem Online-Forum. Heute als Tragödie. Die Beschreibung der Tragödie überlasse ich heute anderen, und komme zur Farce.

Es war das Jahr 2000. Das Internet war gerade frisch ausgepackt, neu und aufregend. Ein paar junge Männer aus Aachen hatten eine Abstimmsoftware programmiert und darum ein kleines Internetspiel gestrickt: dol2day, Democracy Online today.

Lang ist's her


Das Prinzip war simpel: Nutzer könnten sich einer von fünf Parteien anschließen (Union, Sozialdemokraten, Liberale, Grüne und Sozialisten), alle paar Wochen wurde ein „Internetkanzler“ ohne Befugnisse gewählt. Zwischendurch vertrieb man sich die Zeit mit Fragen und Abstimmungen zu mehr oder weniger politischen Themen.  

Im Jahr 2000 war so etwas aufregend. Die Plattform wirbt immer noch mit "Web 2.0 seit 2000". Der damals erhaltene Grimme-Online-Preis steht weiterhin auf der Startseite. Die Presse berichtete, einige jüngere Nachwuchspolitiker waren durchaus aktiv (ich erinnere mich an Alexander Graf Lambsdorff), andere hoffnungsvolle Jungengagierte (Hallo, Mathias J) und andere spannende, tolle geistreche Menschen (zuviele nicht dass ich jetzt ausversehen jemand vergesse) zu Anfangszeiten ließen sich auch Parteizentralen ködern und schnupperten mal herein, denn CYBER und INTERNET. Der zeitweise existierende "virtuelle Landesverband" der PDS hatte seinen Ursprung auch in diesem Forum.

Dann geschahen zwei Sachen. 



Den Communitymitgliedern wurde das System zu langweilig: sie erkämpften neue Parteien und weitere Unterforen zur Vernetzung. Vor allem aber entdeckten die NPD und ihre Freunde das Medium. Die FUN (Abkürzung stand für irgendwas mit Nation soweit ich mich erinnere) trat auf die Bühne. Und die FUN machte Nazi-Propaganda. Sie machte nicht nur Propaganda, sie trommelte sie unablässig in dieses Forum hinein. Wo vorher Diskussionen zu Landtagswahlen, Sozialgesetzgebung und Parteivorständen vorherrschten, ging es plötzlich um echte und unechte Deutsche, die jüdische Ostküste, Holocaustleugner etc.

Wenige Punkte brachte die FUN; immer und immer wiederholt. Mit Sachaussagen dazu, die selten  wahr, oft entstellt und sehr oft blind gelogen waren. Aber das hielt sie nicht ab. Immer und immer wieder. Und alle anderen hatten ein Problem: so enervierende Propaganda ließ sich nicht ignorieren.   
Widersprechen, widerlegen war sinnlos. Dann tauchte am nächsten Tag noch einmal die nächste Diskussion zu genau demselben Thema auf. Und wenn man wieder widerlegte, passierte an Tag drei dasselbe. Und an Tag vier sowie Tag fünf.  Dieselben Unwahrheiten, dieselben Verdrehungen, derselbe Hass. Der Hass, dem es sich nicht entziehen ließ, denn er war immer da. Dem sich nicht widersprechen ließ, denn er war davon unbeeindruckt.

Wieviele Menschen wirklich FUN-Accounts bedienten haben wir nie herausgefunden. Offensichtlich aber war die Zahl der menschlichen Teilnehmer an der Tastatur deutlich geringer als die der öffentlich auftretenden Accounts. Das war bei dol2day eigentlich verboten, durchsetzen ließ es sich schwer. Ziemlich schnell hatten die Administratoren aufgegeben. Doppelaccounts und inhaltliche Überschreitungen wurden toleriert.

Vielleicht gab es noch bei offensichtlicher Holocaustleugnung Sanktionen, Fragen wie „was hälst Du von Ernst Zündel?“ blieben unsanktioniert, auch wenn sie eine eindeutige Absicht hatten.
Währenddessen nutzten die anderen Doler die Zeit neue Parteien zu gründen. Neben den Grünen gab es bald auch die Linksgrünen, neben den Liberalen die linksliberalen, die konservativen Christdemorkaten, die grünliberalen, Sozialdemokraten, die wahren Sozialdemokraten, die Sozialisten und die Kernsozialisten, diverse Spaßparteien und die Monarchisten.

Während die „Wahlen“ zum in dol bedeutungslosen Kanzler dann noch ziemlich lange von wechselnden links/grün/liberalen-Bündnissen oder nationalistisch-konservativen Bündnissen gewonnen wurden (die Christdemokraten und Sozialdemokraten hatten sich ziemlich früh in die Bedeutungslosigkeit verabschiedet), dominierte die FUN den öffentlichen Diskurs. 

Jede Differenzierung, jede Abwechslung, jeder Versuch die Diskussion auf ein höheren Niveau zu kriegen, ging im Störfeuer unter. Aggressive Energie besiegt Geist. Den einzigen halbwegs erfolgreichen Gegenpol bildeten die Spaßparteien, die bestenfalls hintersinnig auf Geist setzen und sonst auch auf emotionalen Gehalt.

Irgendwann wurde dann auch die FUN gelöscht, aber bis dahin gab es schon mehrere Anschluss- und Nachfolgegruppen, die entsprechenden Accounts waren auf dol2day heimisch geworden. Während die Plattform selber das Problem nicht in den Griff bekam, hatten die meisten User eine einfache Lösung. Sie gingen. In wenigen Monaten schrumpfte dol2day erheblich und sank auf einen Kernbestand von Restresidualnutzern zusammen, der dort bis heute durchhält.Waren zu Hochzeiten über 300 doler gleichzeitig online, liegt die Zahl heute oft im einstelligen Bereich.

Die Plattform existiert noch.  Sie sieht optisch nahezu aus wie 2000. In der Sonntagsfrage liegt die AFD mit 40% vor den Grünen mit 17%. Es existieren von den ehemals 30/40 Parteien mit teilweise mehreren hundert Mitgliedern noch 13 Parteien, deren größte auf 10 aktive Mitglieder kommen. Aktuell beliebte Umfragen und Diskussionen drehen sich um Trump, Trump, Trump und Le Pen sowie Bier als soziales Mittel. Immerhin, die Themenwahl ist im Jahr 2016 auf dol2day deutlich weniger nazilastig als noch vor einigen Jahren. Zu den meisten Fragen lassen sich echte Diskussionen führen.



Lehmann von der CKP (der Christlich-Konservativen Partei) wurde letzte Woche zum 53. Internetkanzler gewählt. Er gewann in der letzten Wahlrunde mit 27 zu 26 Stimmen gegenüber .Tochigi von der FPI (sozial – liberal – ökologisch).

Dol2day existiert noch. Aber es dämmert vor sich hin. Dol2day 2016 sieht noch so aus wie dol2day 2002, was nun sehr anders ist als dol2day 2000. Eine in Teilen bereichernde in Teilen verstörende Erfahrung – umso verstörender, da dol2day langsam aber sicher die Realität aufholt. Mir gab es die Erfahrung, dass faktenignorierende Aggression resistent gegenüber jedweder seriösen Diskussion ist. Die Erfahrung, dass selbstverständliche Grundregeln manchmal mit mehr deutlich Nachdruck durchgesetzt werden müssen als die damalige Administration aufwenden wollte. Und: den größen Erfolg, gegen Nazi-Lügen hat man, indem man eigene Geschichten mit mehr emotionalem Gehalt anzubieten hat.

 

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