Dienstag, 24. Oktober 2017

Israel-Romane (II): Gelesen: Oz, Gutfreund, Amiri, Spark, Shalef, Primor

Der Aufenthalt in Israel nähert sich. Madame und ich werden nicht lange genug fahren - man kann nie lange genug fahren, eigentlich braucht man immer mehr als ein Leben, um nur einen Ort richtig zu verstehen, und nicht einen 10-Tages-Trip für ein Land.

Im Spätherbst werden Madame und ich nach Israel fliegen. Kibbuz Inbar (zwischen Nazareth und See Genezareth -> Jerusalem -> Ne’ot Hakikar (beim Toten Meer) -> Tel Aviv. Weitere und genauere Planungen gibt es noch nicht. Aber das werden wir sehen, wenn es soweit ist. Es gibt eher ein paar vage Ideen: Akko, See Genezareth und Totes Meer natürlich, Gordon Pool in Tel Aviv, Haifa, Shlomo soll ein guter Jerusalem-Führer sein. Neben ein paar organisatorischen Vorbereitungen (Hotels, Auto, Krankenversicherung) lag meine Hauptvorbereitung aber in der Lektüre von Belletristik..

Adressen besorgen kann man sich schnell. Ein Feeling für die Umgebung entwickeln dauert länger. Etwas wirklich zu verstehen, funktioniert nie. Aber man kann versuchen, in die richtige Richtung zu denken.



Also fragte ich auf Twitter und Facebook nach guten Romanen zum Thema Israel und bekam eindrucksvolle Antworten. Die vollständige Liste war bereits in Iberty: Israel-Romane (I): die Liste. .

Vor der Reise werde ich nicht mehr dazu kommen, alles zu lesen. So seit zumindest ein Anfang versucht. Ich begann mit: Amos Oz - Eine Geschichte von Liebe und Finsternis; Suad Amiri - Sharon and my mother in Law; Meir Shalev – Ein russischer Roman, Avi Primor - Mit Ausnahme Deutschland ; Muriel Spark - Das Mandelbaumtor, Amir Gutfreund – Unser Holocaust. 

Wenn das Land schon vielfältig und die Zeit knapp ist, hilft Nachhilfe. Am besten: Nachhilfe durch andere Perspektive. Sichtweisen, die uns selber verborgen bleiben werden - weil wir nicht lange genug da sind / an anderen Orten sind / keine Juden oder Muslime sind.

Also wenigstens ein Versuch in Vorbereitung des Ganzen anderen Perspektiven einzunehmen.  Was aber blieb nun hängen nach all‘ der Lektüre. Ein kleiner Rundumschlag.

Bilder, die blieben


Was bleibt: Vieles an das ich mich nicht mehr bewusst erinnere. Einiges wird plötzlich wieder da sein, wenn die richtigen Trigger kommen. Andererseits sitzt tiefer: Einstellungen. Assoziationen, von denen ich nicht mehr wissen werde, wo sie ursprünglich herkommen, einzelne Formulierungen oder Wörter. Bewusst aber bleiben einzelne Bilder im Kopf. Fast keine Handlung blieb mir in Erinnerung, nur wenige Charaktere. Was blieb sind Bilder.

Dabei bin ich nicht sicher, ob sie je so geschrieben wurden.

Der Moschaw in Nordisrael, Sonne, trockenes Land, die Quelle mit den Wildkatzen und der ehemalige Sumpf.


Arbeitsgruppe Feijge, zwei Männer, eine Frau (erwähnte Feijge) ziehen durch das Land als Tagelöhner, Landarbeiter. Ein fröhliches Lied auf den Lippen und doch auch das ganze Elend, das enges Zusammenleben Menschen einbringt.

Bilder aus dem Ghetto, Osteuropa, enge Straßen, Gespanne, laufen über Kopfsteinpflaster.
Der Sprung zwischen einem oft eher skurrilen, irritierenden Haifa der 1960er und den Rückblenden auf den Holocaust und „Alltag inmitten der Vernichtung“. Mit das Härteste, was ich je in einem Roman las. 

Der Unterschied zwischen Oz und Gutfreund. Beide schildern immer wieder schreckliches. Aber Oz nimmt einen an die Hand, führt einen hinein und hinaus. Gutfreund stößt einen rein. Die Neugier kleiner Kinder, die in skurrilen Macken ihrer Nachbarn plötzlich mehr entdecken als auch Erwachsene verkraften können. Gerade noch die eigentümlichen Angewohnheiten von Onkel Josephe und drei Sätze später die eigene Familie den deutschen zum Töten vorwerfen im Ghetto.



Die einzig sicher erfundene Szene in „Unser Holocaust“. Fahren mit dem SS-General im Mercedes auf einer Rundreise durch die Konzentrationslager. Das Bild von ausgehungerten Gestalten, die zum Mercedes kommen.

Der „Deutsche“ in „Unser Holocaust“ – kein Charakter, mehr ein Symbolbild: groß-blond, alle physischen Eigenschaften, die in den Nazi-Szenen aufkommen, dazu extrem vorsorgend, rücksichtsvoll, bewusst, reflektierend und ehrlich gesagt ziemlich unheimlich.

Die Abneigung  gegenüber allem Deutschen beim Erzähler von Unser Holocaust und die Weigerung beispielsweise VW zu fahren.

In Primors Erinnerungen das Thema, das überhaupt Autos von VW - des Führers Auto - in Israel verbreitet wurden.

Das einzig historische Ereignis, das in mehreren Büchern vorkam; die deutsche Entschädigung in der Adenauerzeit. Meiner deutsch sozialisierten Erinnerung ein eher nebensächliches Ereignis der deutschen Nachkriegsgeschichte, das auch mittlerweile eine Selbstverständlichkeit angenommen hat (ich meine, nicht-zahlen wäre hier als Alternative kaum diskutabel), aber in Israel unter dem Thema „sollen die Mörder sich freikaufen können?“ mehr als nur eine Staatskrise auslöste.

Nicht aus einem Roman, aber ein Fernsehbericht, den ich zufällig gleichzeitig sah. Ein Traktormuseum in Israel auf dem Land, wo vor allem die Traktoren des Aufbaus standen. Besonders liebten sie Porsche-Traktoren (d.h. Familie VW) - gekommen natürlich durch ebenjene Wiedergutmachung, weil Adenauer Wiedergutmachung und deutsche Industrieförderung gleichzeitig betrieb, kein Geld schickte, sondern Waren.

Das andere historische Erlebnis. Der junge Amos Oz erlebt die Feiern als die UNO die Staatsgründung Israels anerkannt. Banges Warten vor dem Radio, nächtliches Feiern.

Das Milieu der eingewanderten Kleingelehrten, die in den Gassen Jerusalems mehr Schlecht als Recht über die Runden kommen. Alle viel zu hoch qualifiziert für ihre Jobs, aber das Israel der 1940er hatten einen deutlichen Überschuss an Gelehrten. Die Sehnsucht und der Neid dieses Gelehrtenmilieus auf die wahren neuen Israelis, die ihre Heimat dem Land abrungen und echte Landwirtschaft betrieben.

Die tragisch-schöne Szene als der kleine Amos und sein Vater - einer jener übrqualifizierten Kleingelehrten - versuchen im verdorrten Hinterhof mit steinhartem Lehmboden mithilfe eines Löffels und eines Messers einen Garten zu erschaffen.

Die gedanklichen Bilder riesiger und wild blühender Wildsträucher beim Moschaw.

Die Schilderungen ebendieser Landwirtschaft im russischen Roman, der – obschon deutlich im Emek spielen – tatsächlich seinem Namen Ehre macht, weil er wie eine absurde russische Dorfkomödie wirkt.




Die vollommen andere Perspektive von Muriel Sparks. Sind das andere alles Bücher von Israelis, die von ihren Leuten sprechen und die sich alle intensiv mit Israel beschäftigen, ist das Buch von Sparks ein englischer Gesellschaftsroman, der sich mit dem persönlichen Fremdsein und dem Versuch seinen Platz zu finden, versucht – aber Israel selbst wirkt dort eher als Hintergrund denn als integraler Bestandteil der Geschichte.

Der Kellerclub in Akko, wo der christliche Palästinenser Abdul und seine Freunde abhängen, kiffen, trinken, Politik verachten und versuchen so durchzukommen. Abduls Feststellung, dass man als Palästinenser sich ganz viele Orangenhaine ausdenken muss, die man verloren hat.

Suads Amiris Entrüstung als sie als Palästinenserin in eine israelische Militärkonrtolle gerät und sich aufregt „der junge Soldat weiß nicht wie es ist, wenn der Großvater seinen Olivenhain verloren hat.“ Kurz überschlagen: die Kontrolle findet 1991 statt, wenn Vater und Großvater das Kind mit 25 bekommen haben, dann hat sein Großvater als Erwachsener den Holocaust erlebt – was ist schon organisierter Massenmord dagegen einen Olivenhain verloren zu haben.

Mehrfacher Ärger über Suads Buch. Auch über Szenen in denen sie erst seitenlang erläutert, welch europäische Universitäten sie unterstützen, welche deutsche Genossen bei ihnen sind, ums ich dann zu beschweren, dass die Welt die Palästinenser vergisst. Wenn es ein Geschehen auf der Welt gibt, an dem anscheinend die komplette Rest-Welt teilhat und eine Meinung vertritt, dann wohl die Lage in Nahost.

Noch mal zu Suads Buch: auch wenn ich die allgemeinen politischen Erläuterungen mehr als einmal ärgerlich fand, die Szenen direkt aus der Intifada – wie es ist. Wenn man kaum 100 Meter weit kommt, ohne in einen Checkpoint zu kommen, aufgrund des Ausnahmezustands Essen rationieren muss und teilweise auch ohne Strom oder Wasser im Besatzungszustand lebt – sind eindrücklich.

Die Seltsamkeit in Muriel Spark, dass man mit einem Taufschein überall durchkommt und das – das Buch spielt 1961 – ausgerechnet diejenigen, die eigentlich am wenigsten mit dem Land zu tun haben – europäische Christen – diejenigen sind, deren Leben dort am einfachsten ist.

Die arabischen Großfamilien, die in höheren Gesellschaftsrängen mit den Europäern handeln und ihren Weg finden.

Die Szene in Amos Oz, wo der übermütige Amos im Spiel den Fuß eines kleines arabischen Jungen mindestens schwer verletzt, wenn nicht gar zerschmettert,

Das Bild zweier kleiner Jungen, die einen enge Straße im Ghetto entlanglaufen. Einer hat gelernt, Haken zu schlangen. Der andere nicht. Ersterer erreicht das Ende der Straße, der andere nicht, von Soldaten erschossen.

Bienen, Wildblumen, ein riesiger Stier. Ein Mann ohne Gesicht. Ein Jeep mit britischen Geheimkommandos.

Den Bienen nachrennen einen Berg hinauf um das Nest und die Königin zu finden. Die Kunst Obstbäume so zu behandeln, dass sie mehr tragen als bei allen Nachbarn,

Der Kleinkrieg zweier berühmter Dichter in den Gassen Jerusalems.

Chaim Nachman Bialik. Neben Shimon Peres die einzige Person, die oft und eindrücklich in diversen der Büchern vorkam.

Der sprachliche Unterschied zwischen Oz/Gutfreund, deren Romane beide in den 1940en bis 1960ern einerseits spielen, aber im 21. Jahrhundert geschrieben wurden und  Spark andererseits: Ihr Roman spielt 1961, stammt von 1965. Auch wenn die Zeit in der sie spielen ähnlich ist, die Zeit aus der die Sprache kommt, ist eine vollkommen andere. Bei Spark wirkt die Sprache altertümlicher und oft betulicher als bei Oz/Gutfreund.

Die Faszination von Oz mit der (Neu-)Erschaffung der hebräischen Sprache und dass ich mir nichts davon merken konnte, außer eben diese Faszination.

Onkel Lolek und seine Faszination mit seinem Auto. Der autistische (?) junge Mann, der beim weisen Großvater, dessen Name ich vergaß (Joseph?) immer nur auf dem Stuhl im Garten sitzt und schaut,
Das Phänomen der Familienverengung. Weil so viele Familien so viele Mitglieder während des Holocausts verloren, wurde alles in die Familie aufgenommen und irgendwie integriert, was halbwegs passte.

Das seltsame Gefühl der Unser-Holocaust-Protagonisten, der einzige zu sein, der überlebte. Schilderungen aus dem Ghetto und der frühen Nazi-Besatzung mit der Gewissheit, dass die meisten Personen dort wenige Jahre später ermordet werden.

Das Gefühl der Holocaust-Überlebenden, nur noch ein Schatten-Leben zu führen, als wäre es Herausforderung und Großtat genug das Leben irgendwie zu Ende zu leben, ohne weitere Ansprüche daran wie es gelebt wird. Hauptsache bis zum Ende.

Das Bild staubiger Straßen: sei es im Vorort von Haifa, dem Moschaw im Emek oder dem russischen Dorf.

Der Widerspruch in Muriel Spark zwischen der Engländerin, die historische Stätten und möglichst unverändertes sehen will und den israelischen Reiseführern, die ein Land im Neuaufbau mit Fabriken und Neubausiedlungen zeigen wollen.

Das Gefühl klein aber einflusslos inmitten historischer Ereignisse zu stehen, die links und rechts um einen herum stattfinden (Amos Oz). Das Gefühl ein Leben zu führen, das in jedem Tag und jedem Ablauf durch andere vorgegeben ist (Suad Amiri). Das Gefühl ein normales Vorstadtleben zu führen, aber unter einer sehr dünnen Schicht der Zivilisation klafft der Abgrund und die Löcher dorthin sind auch in der Vorstadt sichtbar (Amir Gutfreund). Das Gefühl nirgends richtig dazuzugehören, überall fremd zu sein (Muriel Spark). Das Gefühl in einer fantastischen Welt mit riesigen Stieren, intelligenten Bienen und verrückten Waffennnarren zu leben (Meir Shalev).

Israel für mich im Spätherbst 2017 wird sehr anders werden. Aber deshalb lese ich.

Kultur in Iberty


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