Freitag, 28. Januar 2011

Ohne Konsens geht es nicht in der Wikipedia.

Vor einiger Zeit hat Tolanor hier einen längeren Post veröffentlicht, in dem er die Meinung vertritt, dass das Konsens-Prinzip einer der ärgsten Feinde der offenen Wikipedia ist. Ich versuche es mal mit einer kleinen Gegenrede.

Ohne das Konsens-Prinzip wäre die Wikipedia schon längst tot oder ein chaotisches Forum, dass nach 10 Jahren keinen Pressebericht wert gewesen wäre.

Der Konsens in der Wikipedia fängt bei den einfachsten Sachen an, wie sieht ein Artikel aus, wie soll er formatiert werden, welche Überschriften beinhaltet. Dies sind alles Formalitäten die sich irgendwann in der Anfangszeit herausgebildet haben und die mehr oder weniger befolgt werden. In der Regel haben sich mal zwei, drei Leute Gedanken gemacht und der Rest hat das für gut befunden und angewandt oder es hat ihn einfach nicht interessiert.



Die per Konsens gefundenen Regeln wurden immer zahlreicher und irgendwann hat sich ein komplexes System entwickelt. Ob es immer sinnvoll ist, das dieses so umfangreich in Breite und Tiefe ist, steht auf einem anderen Blatt. Viel wichtiger ist, dass es dafür sorgt das über viele Dinge nicht ständig Diskussionen geführt werden müssen und man sich auf das Wichtige an der Wikipedia „das Schreiben von Artikeln“ konzentrieren kann.

Nun wurden in vielen Bereichen spezielle Regelungen (Namenskonventionen, Formatvorlagen, Relevanzkriterien) gefunden. Deren Ziel war immer, einen relativ einheitlichen Artikelbestand zu erreichen. Die einzelnen Artikel zu einem Thema sollen einander ähnlich sein in Struktur und Qualität. Dies hilft nicht nur den Autoren beim Erstellen neuer Artikel, sondern auch den Lesern.

Für einen neuen Autoren sind die Regelungen vielfach komplex, schlecht auffindbar und nachvollziehbar. Jetzt kommt der entscheidende Moment; wie die schon länger mitarbeitenden Benutzer auf einen Neuling reagieren. Die einen weisen ihn daraufhin, dass es schon immer so war und es nichts zu ändern gibt. Ein paar andere können ihn eventuell auf alte Diskussionen verweisen und die dritte Gruppe versucht es mit argumentativer Überzeugungsarbeit. Nun gibt es aber auf Grund des offenen Charakters der Wikipedia das Problem, dass diese Diskussionen im Extremfall dauernd zu führen sind. Bestimmte Regelungen müssen ständig argumentativ verteidigt werden. Nun könnte man argumentieren: „Ist doch gut, dass ein Thema ständig in der Diskussion bleibt“. Nur führt dies über kurz oder lang dazu, dass diejenigen die ständig diese Diskussionen führen, irgendwann ausgebrannt sind. Das ständige Wiederholen der gleichen Argumente bzw. Wiederlegen der immer gleichen Gegenargumente ermüdet auf die Dauer und führt zu einer Abschottung.

Ein Verweis auf frühere Diskussionen funktioniert in der Regel nicht, da es keine Indizierung des Archives gibt und eine normale Google-Suche vielfach ineffektiv ist. Somit sind die Diskutierenden auf ihr Erinnerungsvermögen angewiesen. Dieser Effekt wird sich in Zukunft noch verstärken.

Ein Neuling hat am Anfang nur zwei Möglichkeiten. Entweder er passt sich an und übernimmt die Regelungen oder er geht in Opposition. Eine solche Oppositionshaltung führt jedoch schnell zur Ernüchterung über die „offene Wikipedia“, da ihm in der Regel mehrere Diskutanten gegenüber stehen und er mit seinen Argumenten nicht mehr durchdringt. Eine anfängliche Anpassung an den Konsens hat den Vorteil, dass er (nebenher sozusagen) sich die verschiedenen Argumente in den Archiven erlesen kann. Er kann dann später besser entscheidende Ansatzpunkte und auch eventuell Verbündete für Veränderungen finden. Das Ziel soll aber am Ende nicht irgend ein Dissens sein. Auch der Neuling strebt eine Art Konsens an, eben nur einen anderen als den bisher bestehenden.

Im Gegensatz zu Tolanor sehe ich nirgends die Entstehung eines inner circle und einer damit einhergehenden Konsenskultur. In den Jahren bis Ende 2004 war eine Autorengemeinschaft entstanden die aber nach außen relativ durchlässig war. Ständig kamen neue gute Autoren dazu. Vor allem die Jahre 2005 bis 2007 bescherten der Wikipedia einen kontinuierlichen Zuwachs.

Der Konflikt bei der Entstehung der Qualitätssicherung war im Grunde ein Streit um die weitere Verfahrensweise mit den Löschkandidaten. Ein Streit der auch heute noch anhält. Vielen Benutzern ist ein sieben Tage im Artikel befindlicher Löschantrag ein Dorn im Auge. Wurde früher der Löschantrag durch eine QS-Markierung ersetzt, sind es heute die Löschantragsentfernungen die für Aufregung sorgen.

Der Konflikt um die Babelbausteine entbrannte an der Tatsache, dass einige Accounts Babelbausteine bastelten und ihre Benutzerseite verzierten, anstatt Artikel zu schreiben. Dies ging soweit, dass versucht wurde entsprechende Kategorien und Seiten im Benutzernamensraum zu etablieren. Viele sahen darin einfach die Gefahr, dass die Wikipedia zu einem MySpace/Facebook-Equivalent mit angehängter Enzyklopädie wird. Ein ähnlicher Konflikt war der im letzten Jahr ausgebrochenen Signaturstreit. Einige Benutzer versuchten mit besonders ausgefallenen Signaturen (Zeichen, Bilder) etc. Aufmerksamkeit zu erregen. Gab es bis dahin denn weitgehend eingehalten Konsens die eigene Signatur schlicht zu gestalten. Erst der Signaturstreit führte letztendlich zu einem Meinungsbild und der Festschreibung dieser Regelungen.

Was natürlich besteht, ist eine mehr oder wenige große Abneigung seine bisherige Arbeitsweise etc. ständig in Frage zu stellen. Dies ist aber keine wikipediatypisches Problem, es trifft auf nahezu alle Bereiche des Lebens zu. Nach einer gewissen Zeit hat man sich soweit in einer Umgebung eingerichtet, dass die eigene Trägheit sich einer Veränderung entgegen stemmt. In dem man in der Wikipedia auf einen „Konsens“ verweist, macht man nichts anderes als den hergebrachten Beamtengrundsatz: „Das war schon immer so.“ mit Leben zu füllen.

Die Konflikte in der Wikipedia werden dadurch verschärft, dass man es nicht geschafft hat eine Diskussionskultur zu etablieren, die auf ad-personam-Argumente verzichtet. So werden heute vielfach Argumente eingesetzt, die eher den anderen Benutzer im Visier haben, als das Objekt des Konfliktes selber.

Gibt es einen Ausweg aus dieser Situation?

Dieser wäre nur möglich, wenn alle über ein paar Punkte einen Konsens erreichen:
  • dem Anderen geht es auch um die Verbesserung der Enzyklopädie
  • der Andere hat sich auch Gedanken über die Problematik gemacht
  • jeder ist sich bewusst, dass er nicht alles weiß und deshalb auch auf die Erfahrung der Anderen angewiesen ist
  • man muss nicht zu allem seine Meinung dazugeben, vor allem wenn einem eine Thematik nicht oder nur peripher berührt
  • Anerkennung von Mehrheiten

Ihr sagt: »Alles ist erlaubt!« Mag sein, aber nicht alles ist deshalb auch schon gut. Alles ist erlaubt, aber nicht alles fördert die Gemeinde. (1. Kor. 10,23)

Der Körper des Menschen ist einer und besteht doch aus vielen Teilen. Aber all die vielen Teile gehören zusammen und bilden einen unteilbaren Organismus. (1. Kor. 12,12)

2 Kommentare:

Sören Brandes hat gesagt…

"# dem Anderen geht es auch um die Verbesserung der Enzyklopädie
# der Andere hat sich auch Gedanken über die Problematik gemacht
# jeder ist sich bewusst, dass er nicht alles weiß und deshalb auch auf die Erfahrung der Anderen angewiesen ist
# Anerkennung von Mehrheiten"

meine rede :-)

AndreasP hat gesagt…

# dem Anderen geht es auch um die Verbesserung der Enzyklopädie

Das ist leider allzuoft nicht der Fall. Ich habe im letzten Jahr wohl mehr neue POV-Pusher und sonstige Einzelkämpfer als neue Enzyklopädie-Verbesserer "kennenlernen dürfen".

# Anerkennung von Mehrheiten

Das ist und bleibt problematisch. Erstens sind "Mehrheiten" bei inhaltlichen Auseinandersetungen recht unbrauchbar. Wenn eine Mehrheit entscheidet, dass Goethe im Jahr 1950 gestorben sind (oder Homöopathie wissenschaftlich haltbar ist), wird das dadurch nicht richtiger. Und auch auf der Meta-Ebene der Wikipedia gibt es eben immer wieder Probleme, die mit Mehrheiten und immer neuen "Gesetzen" nicht sinnvoll zu lösen sind, sondern eher mit der Kraft des einen schlagenden Arguments, oder aber Laissez-Faire und Nebeinanderexistieren mehrerer Modelle.

Das Grundproblem mit den Mehrheiten in der Wikipedia ist aber, dass die anonymen/pseudonymen Benutzer mit Wahlrecht keine Grundgesamtheit ergeben, die demokratische Legitimation möglich macht. Wir haben nunmal keinen Ausweiszwang und kein vor Betrug sicheres Wählerverzeichnis. Außerdem: Die "schweigende Mehrheit" ist bei jedem Problem so überproportional groß (alleins schon da kein Mensch die Vielzahl der an allen Ecken stattfindenden Meinungsbilder etc. überblicken kann), dass eine wirkliche demokratische Meinungsfindung auf allen Ebenen ein Ding der Unmöglichkeit ist.

Und alles geht schon damit los, dass die meisten Wikipedia-Leser überhaupt nie editieren und die Bedürfnisse der Leser von uns seit vielen Jahren nicht ansatzweise erfragt oder auch nur bedacht werden. Diese Mehrheit von Wikipedia-"Stakeholders" kommt nicht mal in den allerdemokratischsten Konzepten bei uns vor...